Professor Bauer, mal plakativ gefragt: Wie sähe Bayern ohne den Tourismus aus?
Bayern ohne Tourismus – das kann zwar theoretisch gedacht werden, aber Bayern ohne Tourismus wäre nicht mehr Bayern. Die Leistungsträger im Tourismus stellen ihre Angebote ja nicht nur Tourist*innen zur Verfügung, sondern auch den Einheimischen. In einer Studie des Bayerischen Zentrums für Tourismus (BZT) im April dieses Jahres zur Lebenszufriedenheit in Bayern wurde explizit der Einfluss des Tourismus auf verschiedene Lebensbedingungen erfragt. Dabei zeigte sich, dass in touristisch geprägten Regionen deutlich mehr Menschen mit ihrem Leben zufrieden sind als in nicht touristisch geprägten Regionen. Der Tourismus ist nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Bayern, sondern mit all seinen gesellschaftlichen und kulturellen Effekten der Kern des bayerischen Lebensgefühls.
In welchen Bereichen macht sich der Tourismus als Wirtschaftsfaktor bemerkbar – und welcher ist der wichtigste? Steuereinnahmen, Arbeitsplätze …?
Der Tourismus ist eine klassische Querschnittsbranche, die mit vielen anderen Bereichen der bayerischen Wirtschaft verbunden ist. Tourismus schafft insbesondere in den ländlichen Regionen Bayerns Arbeitsplätze, für die es oftmals keine Alternativen gibt. Beispielhaft zu nennen sind hier das Gastgewerbe, der Einzelhandel und vielfältige Dienstleistungsanbieter. Vom Tourismus profitieren aber auch Wirtschaftsbereiche wie regionale Handwerksbetriebe und Zulieferer wie Bäckereien, Metzgereien, Brauereien und viele mehr. Nicht zu vergessen sind die kommunalen Steuereinnahmen durch den Tourismus.
Man denkt bei Tourismus und Wirtschaft ja oft nur an direkte wirtschaftliche Effekte wie Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Welche indirekten Effekte sind ebenfalls wichtig, werden aber häufig übersehen?
In der bereits genannten Studie des BZT zur Lebenszufriedenheit in Bayern wurde auch nach den Auswirkungen des Tourismus in den bayerischen Regionen gefragt. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten sind sich der direkten wirtschaftlichen Effekte wie der Schaffung von Arbeitsplätzen und einer finanziellen Einnahmequelle für die Bevölkerung bewusst. Jede*r Zweite sieht auch, dass durch den Tourismus Freizeit- und Kulturangebote entstanden sind, die auch der lokalen Bevölkerung zur Verfügung stehen und damit ein attraktives Lebens- und Wohnumfeld schaffen.
Welche Wirtschaftszahlen im Tourismus haben sich in den letzten Jahren am stärksten verändert – und was bedeutet das für die Zukunft der Branche?
In den vergangenen Jahren schien es im Tourismus nur einen Weg zu geben: schneller – höher – weiter! Jährlich ähnlich lautende Pressemeldungen verkündeten den Erfolg der Tourismusbranche mit immer wieder neuen Tourismusrekorden weltweit, in Bayern und in seinen Regionen. Und dann wurde diese von Wachstum verwöhnte Branche im Jahr 2020 aus voller Fahrt zu einer Vollbremsung gezwungen Die Umsatzausfälle durch die Coronapandemie beliefen sich laut dwif-Corona-Kompass in Bayern in den Jahren 2020 und 2021 auf zusammen ca. 23,7 Milliarden Euro.
Die Krise legte die Verwundbarkeit der Tourismusbranche offen und zeigte, dass sich der Tourismus teilweise als nicht widerstandsfähig erweist. Und die nächste Krise ist schon da, und weitere werden folgen. Vor diesem Hintergrund ist die dringende Frage, welche Voraussetzungen und welche Denkansätze die Tourismusbranche braucht, um krisenresilienter zu werden. An Maßnahmen fallen mir ein: Identifikation neuer Quellmärkte, Ausrichtung des Angebots auf die (veränderten) Bedürfnisse der (alten) und neuen Quellmärkte, Neustrukturierung des Angebots, Qualität vor Quantität, Klimaanpassungsmaßnahmen, Entwicklung von Lebens- und Urlaubsräumen. Und bei allen Bemühungen sind die durch Covid beschleunigten Trends Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu berücksichtigen.
Welche Entwicklung für den Tourismus in Bayern halten Sie für sinnvoll?
Ich muss darauf hinweisen, dass es durchaus unterschiedliche Einschätzungen hierzu in den Regionen gibt, weshalb diese Frage für jede Region beantwortet werden muss. Bei der touristischen Weiterentwicklung der Regionen sollten nach Meinung der Bayer*innen vor allem naturverträgliche Tourismusangebote und qualitativ hochwertige Angebote umgesetzt werden. Jede*r Zweite der Befragten wünscht sich zudem die stärkere Einbeziehung der einheimischen Bevölkerung in die touristische Weiterentwicklung ihrer Region. Mit den „Szenarien für den Tourismus in Bayern im Jahr 2040“ haben wir seitens des BZT versucht, Impulse für die touristische Zukunft zu geben. In den meisten Szenarien ist die unversehrte Natur in Bayerns Urlaubsregionen die Basis für den Tourismus. Im Szenario „Neue Verträglichkeit“ wird ein integrativer Ansatz wirksam, der ökologische, ökonomische und soziale Aspekte gleichermaßen berücksichtigt, damit Bayern auch künftig ein attraktiver Zukunftsraum für Gäste und Einheimische bleibt. Die operative Umsetzung dieser Zielvorstellung hat nun die Bayern Tourismus Marketing mit der „Nachhaltigen Destinationsentwicklung in Bayern“ gestartet. Mit der an die Gemeinwohl-Ökonomie angelehnten Matrix bietet sie ein Tool an, mit dem die gemeinsame Vision für eine nachhaltige Destinationsentwicklung in Bayern befeuert wird.
Zur zukunftssicheren Aufstellung des Tourismus ist es wichtig, sich mit den negativen Auswirkungen zu beschäftigten, die von den Einheimischen mit dem Tourismus in Verbindung gebracht werden. Neben Verkehrsbelastungen müssen auch die Themen höhere Lebenshaltungskosten und Mangel an bezahlbarem Wohnraum angegangen werden, ebenso wie überteuerte Immobilien- und Grundstückspreise.
Lässt sich quantifizieren, wie Tourismus auf die Entwicklung von Infrastrukturen einwirkt, die ja nicht nur den Gästen nützen, sondern auch den Einheimischen?
Dazu liegen uns keine Zahlen vor. Ein mit Mitteln der Tourismusförderung angelegter Wanderweg, der auch von der einheimischen Bevölkerung genutzt wird und damit zur empfundenen Lebenszufriedenheit beiträgt, lässt sich eben nur qualitativ bewerten. Aber wie unsere Studien zeigen, ist den Einheimischen durchaus bewusst, dass die vielfältigen Angebote in den Bereichen Freizeit und Kultur wegen des Tourismus ausgebaut wurden und heute durch die Tourismuseinnahmen gesichert werden.
Welche Gefahren bedrohen aktuell den Tourismus als Wirtschaftsfaktor?
Auf dem World Travel Market (WTM) 2022 malte ein Tourismuskollege ein pessimistisches Bild mit Blackouts und Gasrationierungen, wenn der Winter besonders kalt werden sollte. Neben der Energiekrise mit den steigenden Energiekosten sind – laut Befragungen des DEHOGA Bayern – speziell die gastgewerblichen Betriebe vom Steigen der Lebensmittelpreise und der Personalkosten bedroht. Knapp 50 Prozent der Unternehmen der Tourismusbranche beschreiben laut der Herbstkonjunkturumfrage des DIHK ihre Finanzsituation als problematisch. Der bereits seit Jahren beklagte Fachkräftemangel entwickelt sich zu einem generellen Arbeitskräftemangel, und es ist zu vermuten, dass die Themen Nachfolge und Betriebsfortführung durch diese Rahmenbedingungen verstärkt aufkommen werden. Auch steht immer noch das Thema Corona als Drohung im Raum.
Der Tourismus muss noch viel resilienter werden
Der Tourismus kann sich schwer entwickeln, wenn Arbeitskräfte fehlen. Was kann hier getan werden?
Neben den Bemühungen der einzelnen Betriebe bemühen sich sehr viele Branchenverbände deutschlandweit um die Rekrutierung von Arbeitskräften mit neuen Arbeitszeitmodellen, höheren Bezahlungen und verschiedenen Anreizsystemen. Die Bayern Tourismus Marketing versucht mit Unterstützung des Wirtschaftsministeriums zusammen mit vielen Partnern aus der Tourismuswirtschaft die Vielfalt der Tourismusbranche in einer breit angelegten Kampagne darzustellen und die Attraktivität der bayerischen Tourismusbranche als Arbeitgeber zu zeigen.
Tourismus bringt ja nicht nur Geld. Sollte er daher nicht auch mit anderen als rein wirtschaftlichen Kennzahlen gemessen werden?
Die Zahl der Studien, die sich mit den Einheimischen beschäftigen, hat in den letzten Jahren zugenommen. So entwickelt z. B. das Deutsche Institut für Tourismusforschung an der FH Westküste einen Tourismusakzeptanzsaldo-Index, der die Tourismusakzeptanz in der Perspektive für den Wohnort und für die Einwohner*innen persönlich misst. Bei der „Nachhaltigen Destinationsentwicklung in Bayern“ geht es im Kern ja darum, dass bei der Zukunftsraumgestaltung die Bedürfnisse der Einheimischen an ihren Alltagsraum und die der Gäste an ihren Urlaubsraum in Balance stehen.
Auch die Einheimischen stehen jetzt im Fokus
Aus diesem Grund hat das BZT im April 2022 für die bereits zitierte Studie eine bayernweite Befragung durchgeführt, um mehr über die Lebenszufriedenheit, das Tourismusbewusstsein und die Tourismusakzeptanz in Bayern zu erfahren. Neben der Bewertung der Auswirkungen des Tourismus für den Wohnort, für die Region und die Befragten persönlich wurden auch die touristischen Weiterentwicklungsmöglichkeiten abgefragt. Zudem gibt die Umfrage Einsichten in die Zufriedenheit mit verschiedenen Lebenssituationen und wie der Tourismus in den Regionen darauf einwirkt. Die Fragestellungen wurden vom Institut für Nachhaltige und Innovative Tourismusentwicklung (INIT) der Hochschule Kempten und von Centouris, einem Institut der Universität Passau, aufgegriffen und in den Destinationen Bayerischer Wald und Allgäu mit seinen vier Landkreisen durchgeführt, um Einsichten in die subjektive Einschätzung der Einwohner*innen zu erhalten. Zurzeit arbeiten die Mitarbeiter*innen der Institute an der Entwicklung von Lebensqualitätsindizes, die der Politik und den Tourismusverantwortlichen Ansatzpunkte für die Alltags- und Urlaubsraumentwicklung liefern sollen.
Die Hochschulstadt Kempten ist Sitz des 2019 gegründeten Bayerischen Zentrums für Tourismus (BZT), das sich interdisziplinär mit dem Wissenstransfer zwischen Forschung und Praxis beschäftigt Das BZT unter dem Vorsitz von Prof. Alfred Bauer ist ein An-Institut der Hochschule Kempten und versteht sich als unabhängige wissenschaftliche Einrichtung für Bayern. Gegründet wurde es 2019 im Zuge der neuen Tourismus-Initiative des Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie – mit dem Ziel, den Wissenstransfer zwischen Praxis und Forschung im Bereich Tourismus zu intensivieren sowie die Tourismuswissenschaft und -forschung zu fördern.
Das BZT initiiert und moderiert den Austausch zwischen Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und den verschiedenen Akteur*innen der Tourismuswirtschaft. Wissensvermittlung und Austausch finden unter anderem im Rahmen regelmäßiger Veranstaltungen wie der „Bayerischen Tourismusdialoge“ und der „Kamingespräche“ statt. Parallel dazu führt das BZT aber auch eigene Forschungsprojekte durch. Zu den bisherigen Forschungsprojekten des BZT zählen Arbeiten zu Themen wie Besucherlenkung, Corona und Mobilfunkdatenanalyse. Gerade erst im Sommer 2022 ist die im Interview von Prof. Bauer mehrfach zitierte Studie zu Lebenszufriedenheit, Tourismusbewusstsein und Tourismusakzeptanz erschienen.
„Nachhaltige Destinationsentwicklung in Bayern“ – so lautet die Devise der bayerischen Tourismusbranche für die Zukunft. Zentrales Element dieser Vision ist, dass bei der Zukunftsraumgestaltung die Bedürfnisse der Einheimischen (an ihren Alltagsraum) und die der Gäste (an ihren Urlaubsraum) in Balance stehen. Daher hat das Bayerische Zentrum für Tourismus im April 2022 eine bayernweite Befragung durchgeführt, um mehr über Lebenszufriedenheit, Tourismusbewusstsein und Tourismusakzeptanz in Bayern zu erfahren. Neben der Bewertung der Auswirkungen des Tourismus für den Wohnort, für die Region und die Befragten persönlich wurde auch die Einstellung zur touristischen Weiterentwicklung abgefragt. Dazu gibt die Umfrage Einsichten in die Zufriedenheit mit verschiedenen Lebenssituationen und wie der Tourismus darauf einwirkt.
Zum Thema Lebenszufriedenheit wurden auch Faktoren wie Wohn- und Lebenshaltungskosten untersucht. Hier ergab die Studie, dass rund 30 Prozent der Befragten Auswirkungen des Tourismus auf diese Kosten für (sehr) negativ hielten. Dafür ist rund jede*r Zweite*r mit Beschäftigungsverhältnissen, Infrastruktur, Freizeit- und Kulturangeboten eher oder sehr zufrieden. „Insgesamt werden sowohl die positiven als auch die negativen Auswirkungen des Tourismus gesehen“, so BZT-Leiter Alfred Bauer. „Interessant ist, dass mit 67 Prozent der Befragten in touristischen Regionen deutlich mehr Menschen mit ihren Lebensbedingungen zufrieden sind als in nicht touristischen Regionen.“ 47 Prozent der Befragten bewerten die Auswirkungen des Tourismus in ihrer Region für sich persönlich als (überwiegend) positiv. In touristisch stark geprägten Regionen sind es sogar 59 Prozent.