{{postCount}} Catch me if you can

Catch me if you can

Wenn es stimmt, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne des Menschen heute der eines Goldfischs gleicht – neun Sekunden –, muss man sich ganz schön ranhalten, um mit Storytelling auf Social Media zur Kenntnis genommen zu werden. Wie das gelingt, haben uns professionelle Content Creatoren verraten

Autorin: Michaela Strassmair

Auf dem Handyscreen rast ein Schlitten über die Kuppe talwärts. Ein junger Typ liegt bäuchlings darauf, jauchzt vor Freude und Geschwindigkeit, seine Augen leuchten. „Das macht Bock, Mann!“ Das Video zeigt ein Schlittentest im Allgäuer Winter: Welcher ist der beste? Die Antwort nach drei Downhill-Fahrten: „Egal, Hauptsache ihr kommt damit runter und genießt die Schönheit Bayerns.“ Nach 30 Sekunden ist das Action-Video vorbei. Doch bis heute generierte es über 670.000 Views. Ohne Filter, ohne perfekte Inszenierung, dafür mit Emotionen, Authentizität, Herzrasen und guter Laune. Typisch für die Clips von Marius und Janik Zötzl, die immer rasant, laut und emotional sind. Und deshalb sehr erfolgreich.

Das kurze, schnelle Video der beiden Brüder aus Franken ist ein perfektes Beispiel für gelungenes touristisches Story­telling auf Social Media. Es erzählt kurz und knackig eine Geschichte, die vordergründig von einem Schlittentest handelt, in Wirklichkeit jedoch sehr viel mehr erzählt: Sie transportiert das Glück eines Wintertags in der bayerischen Natur.

Echt bayerische Thumb-Stopper: Hingucker, die sofort Emotionen vermitteln. Zu Themen, die alle interessieren:

Das Angebot an Content wächst immer mehr

Storytelling auf Social Media verpackt Content in Geschichten, die Emotionen auslösen und sich deshalb viel tiefer einprägen als reine Informationen. „Gerade für den Tourismus ist Storytelling wichtig“, bekräftigt Pascal Eise, der als Story-Stratege für die Hamburger Content-Agentur Crowdmedia arbeitet und sich seit fünf Jahren intensiv mit Storytelling beschäftigt.

„Kaum eine Branche ist so nah am echten Erleben dran wie der Tourismus, wo es um Sehnsuchtsorte, um Erinnerungen, um persönliche Momente geht.“ Eise hat früher selbst im Tourismus gearbeitet und als Reiseleiter die Erfahrung gemacht, „dass im Tourismus gewinnt, wer ein authentisches Erlebnis verkauft und dabei die Emotionen seiner Zielgruppe anspricht. Wenn ich mein Angebot also wirkungsvoll platzieren will, muss ich eine Geschichte erzählen – eine, die im Kopf und im Herzen bleibt. Und ich muss sie so erzählen, dass die User sie auch ansehen. Auf Instagram und TikTok entscheidet sich das in den ersten drei Sekunden“, weiß der Experte.

Die große Herausforderung auf TikTok wie auch auf allen anderen Social-Media-Kanä­len besteht für Creatoren deshalb darin, den Daumen des Users in seiner ewigen, zwanghaften Wischbewegung zu stoppen. Das Scrollen zu unterbrechen. In anderen Worten: Die Aufmerksamkeit der User zu gewinnen und sie möglichst lange aufrechtzuerhalten. Die Herausforderung ist deshalb groß, weil nicht nur das Angebot an Content enorm ist und immer weiterwächst. Parallel dazu sinkt auch die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen auf Social Media.

Was immer funktioniert: Essen, Tiere, Spaß

Laut der ARD/ZDF-Medienstudie 2024 verweilen Mediennutzende, die zwischen 1981 und 1995 geboren sind, nur noch zwölf Sekunden bei einem Inhalt. Das ist immer noch mehr als bei der Generation Z (bis 2010) und der Generation A (nach 2010 geboren): Die gucken nur fünf bis acht Sekunden hin, bevor sie nach neuen Reizen lechzen und weiterwischen.

Content Creatoren müssen also schnell sein. Wie das gelingen kann, wissen Marius und Janik Zötzl, die Produzenten des rasanten Allgäuer Schlitten-Videos. Seit fünf Jahren sind sie unter dem Namen mariundjenson als professionelle Content Creatoren unterwegs, u. a. auch für den TikTok-Kanal der BayTM. „Um schnell für Aufmerksamkeit zu sorgen, sollte man als Erstes ein Thema wählen, mit dem sich so gut wie alle identifizieren können – Tiere, Essen, Entertainment“, sagt Marius Zötzl. Dann brauche es eine klare Headline, die ebenfalls alle verstehen – „und zwar vom 15-jährigen Rapper bis zur 60-jährigen Oberstudienrätin! Denn zu Beginn wird ein Clip an ganz viele unterschiedliche Leute ausgesendet.

Dort muss er erst mal Aufmerksamkeit generieren. Je nach Klicks und Watchtime versteht der Algorithmus dann, für welche Zielgruppe das Video interessant ist und spielt es entsprechend an ein stärker zugespitztes Publikum aus.“

Gut kommt alles, was nicht erwartbar ist

Pascal Eise findet, dass sich für einen Einstieg, der Aufmerksamkeit generiert, alles eignet, was unvorhergesehen und nicht erwartbar ist: ein lautes Geräusch. Ein szenischer Einstieg, der plötzlich unterbrochen wird. Überraschende Thumbnails (das sind die kleinen Vorschaubilder). Vor allem aber müssten in den allerersten Sekunden sogenannte Hooks ausgeworfen werden – Angelhaken, die dafür sorgen, dass die Leute dranbleiben und nicht weiterscrollen. „Ein starker Hook kann eine Frage sein, ein überraschender Fakt, eine Ankündigung, ein Versprechen, eine ungewöhnliche Szene. Was danach im Clip kommt, muss halten, was der Anfang versprochen hat“, weiß Janik.

Pascal Eise orientiert sich beim Auswerfen von Haken am vierstufigen Hook-Modell des amerikanischen Autors Nir Eyal. Einem ersten Trigger (etwa einem unbewussten, mit Emotionen verbundenen Reiz) folgt in diesem Modell die Action-Phase, in der den Usern das Gefühl vermittelt wird, dass weiterzugucken einfacher ist, als auszusteigen. „In dieser Phase kann man gut sogenannte Thumb-Stopper setzen. Elemente, die den Daumen vom Weiterscrollen abhalten. Das sind Sätze wie ‚Bevor du weiterscrollst …‘oder ‚Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, dass …‘“, führt Eise aus. In Phase 3 ist dann die zu Beginn versprochene Belohnung (etwa die Auflösung der anfangs gestellten Frage) so gut, dass die User dem Profil folgen und damit „investieren“ (Phase 4). Und damit hat ein Social-Media-Clip alles geschafft, was er schaffen kann. Wie so ein Hook praktisch aussehen könne? Eise denkt da etwa an eine Frau mit einem Mountainbike auf einem Holzsteg, der über einen einsamen, kristallklaren Waldsee führt. „Sie filmt ganz kurz die großartige Landschaft Dann sagt sie in die Kamera: ‚Und jetzt zeigt ich dir, wie DU hierherkommst!‘“

Gute Hooks erzeugen ein Gefühl von Nähe

Ein Hook erzeugt idealerweise auch ein Gefühl von Nähe. Denn auf Social Media geht es viel um Verbindungen. „Menschen kaufen von Menschen“, sagt Eise; nicht die Fakten blieben hängen, sondern das Gefühl. Genau deshalb seien Gesichter, persönliche Geschichten und Erlebnisse wirksam. Die Erklärung dafür liefert die Hirnforschung: Geschichten sprechen das limbische System an – jenen Teil unseres Gehirns, der für Emotionen, Motivation, Lernen und Erinnerung zuständig ist. Inhalte, die dort andocken, bleiben nicht nur länger im Kopf – sie landen auch im Herzen.

Gute, erfolgreiche Geschichten auf Social-Media-Kanälen, die von den Usern nicht weggewischt werden, folgen oft einem einfachen Muster. „Jede Story braucht einen Konflikt, eine Wendung oder wenigstens eine überraschende Pointe“, erklärt Eise. Seine weiteren Grundregeln für erfolgreichen Social-Media-Content: nicht alles erzählen, sondern das Richtige – weil gute Geschichten einfach sind. Zeigen statt erklären – weil visuelle Reize eher hängen bleiben als Worte. Marius und Janik wiederum legen nicht nur auf gute Inhalte Wert, sondern auch auf gute Technik: Licht, Ton, Schnittqualität, ein gewisses gepflegtes Äußeres sind wichtig, finden die beiden. Dennoch müsse es nicht zwangsläufig ein superprofessionell produziertes Hochglanzvideo sein.

Belohnt wird auch, wer mutig und kreativ ist

Besonders bei TikTok, erzählen die beiden Creatoren, würden auch wackelige Aufnahmen oder spontane Szenen verziehen. Was hier zählt, sei nicht Perfektion, sondern Persönlichkeit. Auch im Bereich Tourismus. Belohnt würde auf dieser Plattform auch, wer sich etwas traut und kreativ ist. Laut Janik ist der Kanal mutiger und die Community hier offener für Experimente als andere Plattformen. Mit über einer Milliarde Nutzenden weltweit – darunter fast 21 Millionen in Deutschland – funktioniert TikTok anders als Facebook oder Instagram: Nicht Follower bringen Reichweite, sondern Interaktion. Der Algorithmus bevorzugt Inhalte, die in den ersten Sekunden Klicks, Likes oder Kommentare erzeugen.

Kleine Kanalkunde: Facebook, Instagram, TikTok und Co.

Instagram: Für Emotion, Ästhetik und kurze Storys. Ideal für Inspiration, tolle Optik, Community-Aufbau und -Pflege. Besonders populär in der Altersgruppe von 18 bis 35 Jahren

TikTok: Schnelle, unterhaltsame Kurzvideos. Ideal für Reichweite, Trends und Storytelling bei 16- bis 30-Jährigen

Facebook: Gute Plattform für Veranstaltungen, Infos und Dialog mit Menschen über 40. Mehr Text und Bild als Videos

YouTube: Perfekt für längere, erklärende Inhalte wie Reportagen, Erklärvideos, Touren, Hintergrundinfos. Beliebt vor allem in der Altersgruppe von 14 bis 29 Jahren (siehe auch S. 44)

X (ehemals Twitter): Eignet sich vor allem für News, Medienarbeit, Politik, B2B oder Verbandskommunikation

Der Algorithmus filtert nach Relevanz

Der Feed des Einzelnen wird also nicht so sehr auf der Basis von Kontakten gefüttert, stattdessen filtert der Algorithmus gnadenlos nach Relevanz. Auch deshalb müssen Inhalte sofort verständlich sein und etwas auslösen: Staunen, Lachen oder Wiedererkennen.

Speziell für kleinere Destinationen kann das eine große Chance sein. Um viral zu gehen, braucht es nur diesen einen Moment, der sich sofort einprägt. „TikTok funktioniert besonders gut für Tourismus“, berichtet Marius, „man kann Orte auf eine ganz neue, kreative Weise präsentieren und ein breites Publikum erreichen.“ Wie etwa mit einem Schlittentest in den Allgäuer Alpen.

BETRIEBSANLEITUNG FÜR SOCIAL MEDIA

Was müssen Destinationen beachten, die Storytelling für Social Media betreiben wollen? Der Content muss so gestaltet werden, dass er zur Funktionsweise des jeweiligen Feeds und zu den Eigenheiten der Plattform passt. Content Creation auf Social Media ist kein Hexenwerk, sondern Handwerk. Wir haben fünf Tipps unserer Experten Pascal Eise und Marius und Janik Zötzl zusammengestellt:

1. Der Kanal bestimmt die Form
„TikTok und Instagram leben von schnellen Videos“, erklärt Pascal Eise, „Facebook von langsameren Inhalten. YouTube ist trotz ‚Shorts‘ eine Plattform für längere Erzähl-Videos.“ Content muss je nach Plattform unterschiedlich erzählt werden. „Manche Geschichten brauchen mehr Zeit. Bei TikTok sind 15 bis 30 Sekunden ideal“, so Marius Zötzl.

2. Erlebnisse statt Fakten
Reiseberichte oder sogenannte ‚Follow Me Arounds‘ funktionieren gut, weiß Pascal Eise. Dabei nehmen Creatoren ihre Community mit – an einen Ort, durch einen Tag, zu einem Erlebnis. Das schafft Nähe und Vertrauen. Gerade auf Plattformen wie Instagram oder TikTok kommt dieses Format besonders gut an.

3. Menschen, bitte!
Oft wird vergessen: Fotos und Videos ohne Menschen wirken beliebig. „Binde Menschen in die Fotos ein. Authentisch und nicht gestellt“, rät Pascal Eise. Je mehr sich das Publikum mit einer Szene identifiziert, desto stärker wirkt sie.

4. Neue Formate nutzen
Instagram hat sich vom Fotokanal zur Bewegtbild-Plattform entwickelt. Das zeigt sich auch in der Bildsprache: „Auf Instagram hat sich seit Neuestem das 4:5-Format etabliert. Vorher bestand das Profil aus Fotos im 1:1-Format“, sagt Eise. Das heißt: Inhalte werden nicht mehr quadratisch, sondern hochformatig ausgespielt – sie nehmen mehr Platz im Feed ein und fallen dadurch stärker auf.

 5. Authentisch schlägt inszeniert
Wer heute auf Social Media sichtbar sein will, braucht keine perfekte Ästhetik, sondern Glaubwürdigkeit. „Die Zuschauer merken sofort, wenn etwas gestellt wirkt. Wir versuchen, immer wir selbst zu sein und Inhalte zu teilen, die uns wirklich interessieren“, sagt Marius Zötzl.

© erlebe.bayern – Peter von Felbert; Frank Heuer; erlebe.bayern – Guido Schmelich; erlebe.bayern – GertKrautbauer(3); erlebe.bayern – Thomas Linkel