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{{postCount}} Zeitenwende mit Ansage
Ein weißer Roboter in menschenähnlicher Gestalt mit Bildschirm an der Brust

Zeitenwende mit Ansage

Will die KI unseren Job, will sie uns verdrängen? Nein, sagt Chris Boos. „Wir werden uns ergänzen“

Björn Erichsen Autor

Seit der Veröffentlichung von ChatGPT durch die US-Firma OpenAI drängt das Thema Künstliche Intelligenz (KI) in den Vordergrund. Die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt; gleichzeitig droht ein Jobverlust in Millionenhöhe. Da kommt was auf uns zu. Doch was genau? Ein Gespräch mit Chris Boos

Die KI wird den Weg zum Ergebnis künftig selbst finden

Als „Zeitenwende mit Ansage“ beschrieb er den Prozess in seiner Keynote auf dem Bayerischen Tourismustag 2023 Anfang November in München. Grundlegende Prinzipien der industriellen Ära wie etwa Standardisierung und Skaleneffekt seien schon mit der Digitalisierung an ihr Ende gekommen. „Die KI schafft nun ab, was wir bisher unter Automation verstanden haben“, sagt Boos. „Maschinen werden künftig viele Dinge automatisch tun, ohne dass wir den nächsten Schritt kennen. Wir werden nicht mehr den Lösungsweg beschreiben, sondern nur noch das gewünschte Ergebnis – die KI findet den Weg
dorthin dann selbst.“

Auf mancher Ebene werden uns Maschinen den Weg zeigen

Für den Menschen heißt das, dass er ein Stück Ungewissheit tolerieren muss. Generell gilt es, das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine neu zu justieren. Boos prognostiziert stückweise sogar eine Umkehrung der Rollen: „Wir sind daran gewöhnt, dass Maschinen unter unserer Kontrolle arbeiten, weil wir ein besseres Urteilsvermögen haben, dafür aber Maschinen beim Umgang mit Kausalität überlegen sind. Auf strategischer Ebene wird das noch lange so bleiben. „Auf anderer Ebene werden uns die Maschinen den Weg zeigen. Weil sie besser Komplexität verstehen, besser planen können. Da sagen uns die Maschinen, wo es langgeht. Maschinen können das eine gut, Menschen das andere. Sie ergänzen sich gut. Gegeneinander wird schwierig.“

Die Auswirkungen auf Wirtschafts- und Arbeitswelt werden immens sein. „Letztlich wird sich nahezu jeder Prozess auf die ein oder andere Weise automatisieren lassen“, sagt Boos. „Bei der Sachbearbeitung und vielen klassischen Bürojobs rechne ich mit einer Quote von 80 Prozent.“ Dabei handelt es sich nicht um eine Vision in ferner Zukunft: „Ich habe manchmal mit Unternehmern zu tun, die hoffen, dass sie noch 30 Jahre oder so für die Umstellung haben. Doch das ist Wunschdenken. Schon jetzt läuft die Automatisierung auf Hochtouren“, hat Boos beobachtet und verweist auf eine Prognose des World Economic Forum: Danach soll sich der Anteil der Automatisierung an allen Arbeiten allein zwischen 2018 und 2025 von 29 auf 52 Prozent erhöhen.

Der Produktivitätsgewinn wird gigantisch sein

Damit geht ein Produktivitätsgewinn einher, der gigantisch ist. „Das schlägt die Einführung der Dampfmaschine um Längen“, sagt Boos. „Ich rate Unternehmen, jetzt zügig zu investieren und mit den Gewinnen den weiteren Transformationsprozess zu finanzieren.“ Dazu gäbe es jetzt schon viele spezialisierte KI-Lösungen, sogenannte Narrow AIs, die einzelne Prozesse problemlos übernehmen können. Dass dieser Wandel auch Jobs kosten wird, sei auch absehbar. „Es werden aber auch neue Jobs entstehen, allerdings lassen die sich nicht so gut vorhersagen wie Stellenstreichungen.“ Überflüssig werde der Mensch aber durch die KI nicht: „Es wäre ja schön, wenn wir wieder ein bisschen mehr Menschlichkeit in das System bekommen – und Menschen wieder verstärkt sinnstiftende und schöne Dinge in ihrem Arbeitsleben tun können. Die Hoffnung habe ich.“

Die Nachfrage nach individuellem Service wird massiv wachsen

Für die Touristikbranche hat Boos gute Nachrichten: Er prophezeit ein großes Comeback des Service. „Der ist ja ein bisschen aus der Mode geraten. Ich bin aber davon überzeugt, dass mit der Individualisierung auch die Nachfrage nach individuellem Service massiv wachsen wird“, sagt Boos. Unternehmen aus der Reisebranche seien dabei in einer „Pole Position“, seien Vorreiter bei Geschäftsmodellen, die auf Service basieren: „Mit KI gibt es jetzt die Möglichkeit, auf einzelne Anforderungen und Wünsche einzugehen und mehr individuellen Service relativ günstig anbieten zu können.“ Boos empfiehlt daher auch touristischen Unternehmen, sich mit Daten und Datenanalyse zu befassen. Weil eine KI mit der Komplexität großer Datenmengen besser umgehen kann als Menschen, ließen sich so Gästebedürfnisse besser und schneller erfassen und auf Trends reagieren. „Leider ist das Datensammeln sehr, sehr teuer, ohne dass es anfangs etwas einbringt. Allerdings kommt der Punkt, an dem es sich lohnt und sich kontinuierlich Geld aus den Daten ziehen lässt.“ Wichtig sei es auch, die Daten zu teilen, „um das Erfahrungswissen zu multiplizieren.“

Der Tourismus wird vor allem in der Logistik von der KI profitieren

Auch darüberhinaus sieht Boos viel Potenzial im Einsatz von KI-Systemen im Reisebereich. Vor allem in dem, was im weitesten Sinne als Logistik zu verstehen ist. Intelligente Systeme etwa bei Transport oder Warenlieferungen, aber auch bei Energietechnik oder Gebäudemanagement ließen sich durch KI optimieren. Als spannend empfindet er auch die Bemühungen der Reisebranche um intelligente Besucherlenkung, welche die Überfüllung an touristischen Highlights vermeiden helfen soll. „Wer braucht schon so einen Tourismus wie auf Mallorca?“, stellt Boos die rhetorische Frage. „Wenn die KI helfen kann, die Massen besser zu verteilen, ist das sowohl gut für die Natur als auch das touristische Erlebnis.“

Mit KI lässt sich viel besser auf individuelle Servicewünsche eingehen

Neben den großen Umwälzungen wird die Gesellschaft die KI-Revolution auch im Arbeitsalltag zu spüren bekommen. Und zwar ganz grundsätzlich in der Art, wie wir mit den Maschinen um uns herum interagieren: „Durch die KI wird es endlich ein menschliches Interface für den Computer geben, damit können wir Maus und Tastatur über Bord werfen“, sagt Boos. Er erwartet auch, dass die einzelnen Systeme, die heute noch Punktlösungen sind, zusammenwachsen werden. „Auch domänenübergreifend. Ich gehe davon aus, dass uns künftig am Schreibtisch ein ‚genereller Problemlöser’ Aufgaben abnehmen wird. Die Balance wird kontextabhängig sein: Mal hat die Maschine mehr Raum im Prozess, mal der Mensch.“

Im Umgang mit generativer KI wie beispielsweise ChatGPT warnt Boos davor, die Kontrolle der Maschine zu überlassen. „Die generative KI arbeitet nur auf der Basis von Statistik und verfügt über keinerlei Wissen. Hier muss der Mensch verantwortlich bleiben.“ Das gilt auch für die für Boos problematischen Deep Fakes: „Wir werden letzlich alle digitale Identitäten mit uns herumtragen müssen. Dass Leute versucht haben, andere über den Tisch zu ziehen, hat es immer schon gegeben. Die Werkzeuge dafür haben sich jetzt halt stark verbessert. Die Menschen werden aber lernen zu unterscheiden, ob sie dem vertrauen können, was sie sehen. Oder nicht.“

Wir werden gemeinsam die Weichen stellen müssen

Fest steht: Eine Regulierung der KI wird nötig sein – „zumindest, wenn man Oligopole vermeiden will, die man irgendwann nicht mehr loswird“, glaubt Boos. Allerdings sei auch nicht jeder staatliche Eingriff hilfreich: Das britische KI-Regulierungsmodell etwa hält Boos für reinen Protektionismus. „Wir werden gemeinsam die Weichen stellen müssen“, sagt der Experte. „Basis für jede Regulierung muss dabei sein: Die KI muss jederzeit Auskunft über die Gründe ihrer Entscheidung geben – und zwar so, dass es ein Mensch auch versteht.“ Letztlich gilt es dafür immer wieder eine Entscheidung zu treffen: Was will ich den Maschinen überlassen und was nicht? „Doch dafür braucht es mündige Bürger, die eine bewusste Entscheidung treffen. Und da bin ich aktuell doch eher skeptisch.“

Wir werden an einigen grundlegenden Prinzipien festhalten

Wie werden wir also umgehen mit diesem technologischen Wandel und seinen erheblichen Auswirkungen? „Am besten halten wir an einigen grundlegenden Prinzipien fest“, sagt Boos. „Dem Grundsatz ‚Fakten vor Glauben‘ zum Beispiel oder ‚Neugier vor Sicherheit‘. Ganz sicher werden wir auch eine neue Streitbarkeit entwickeln müssen. Und viel Kompromissfähigkeit. Vielleicht schaffen wir es, dass Menschen sich wieder häufiger selbst verwirklichen können, als Künstler oder Pioniere. Es liegt an uns.“

Im Video von Chris Boos‘ Keynote auf dem Bayerischen Tourismustag 2023 erfahren Sie noch mehr zu dem Thema:

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© stock.adobe.com / Mike Dot; Chris Boos