Hitzewellen, Waldbrände, Überschwemmungen: Der Sommer 2023 hat deutlich gemacht, dass der Klimawandel längst da ist. Was Klimaforschende seit vielen Jahren verkünden, ist Wirklichkeit. Was erwartet Europa, was erwartet Deutschland in den nächsten zehn Jahren? Eine Bestandsaufnahme
Es sind apokalyptische Aufnahmen; Judith Rakers präsentiert sie wie die Botin eines zürnenden Klimagottes. In Italien begünstigen Temperaturen bis 47 Grad das Entfachen immer neuer Feuer. Wenige Tage zuvor waren auf Rhodos 10.000 Tourist*innen teils mit Schiffen evakuiert worden. Laut NASA-Karte brennt es auch in Spanien, auf Sardinien, in Libyen.
Wir sollten mit plus 3,5 Grad rechnen
Auf drastische Weise wurde in dieser Tagesschau deutlich, was Wissenschaftler*innen in Form nüchterner Zahlen schon länger prophezeien. Professor Reimund Schwarze, Klimaexperte vom Helmholtz-Institut für Umweltforschung in Leipzig, ist überzeugt: „Das in der internationalen Klimapolitik angestrebte 1,5-Grad-Ziel werden wir dieses Jahr zum ersten Mal verletzten. In Deutschland sollten wir uns daher langfristig auf ein Plus von 3,2 bis 3,5 Grad einstellen.“ Das höre sich zunächst einmal nach wenig an. „Doch in Wirklichkeit bedeutet das zum Beispiel viel extremere, heißere und länger andauernde Hitzeperioden als jetzt.“
Dieses „jetzt“ zeigt sich im Sommer 2023 in einer weiteren Reihe von Ereignissen. Gigantische Waldbrände in Kanada, deren Qualm Hunderte Kilometer weit nach Süden in die USA zog, wo die Einwohner*innen der Hauptstadt Washington das andere Flussufer des Potomac kaum mehr erkennen konnten. Die kanadische Provinz British Columbia rief den Notstand aus.
Ende August folgt auch in Deutschland eine Klimameldung nach der anderen. Der Expertenrat der Bundesregierung kritisiert das Klimaschutzprogramm als nicht ausreichend. Der Bauernverband mahnt an, was Landwirt*innen plagt: Trockenheit von April bis Juni, dann Regen, Hagel, Stürme. In Griechenland brennen da immer noch 60 große Feuer. Schließlich erklären europäische Behörden die Brände von Alexandroupolis im Nordosten Griechenlands zum größten Feuer in der Geschichte der EU.
Solche Anomalien wie jetzt haben wir noch nie registriert
In einem Interview mit dem „Spiegel“ im Herbst 2023 schlägt der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, Mitglied im Weltklimarat und Gründungsdirektor des Potsdamer Instituts für Klimafolgen, Alarm. „Solche Anomalien wie in den letzten Monaten haben wir noch nie registriert. Das Jahr 2023 wird den Blick auf die Welt verändern.“ Die hohen Durchschnittstemperaturen der Meeresoberfläche nennt er als erste Gefahr. „Das wird jenseits der Wissenschaft kaum zur Kenntnis genommen“, sagt Schellnhuber. „Aber ohne die kühlende Wirkung der Ozeane wäre die planetare Erwärmung schon viel weiter fortgeschritten.“ Die Rekordzahl von 21,1 Grad der Meeresoberfläche veröffentlicht das US-Institut Climate Reanalyzer im August.
Zu dieser Zeit zieht ein Unwetter nach dem anderen über Deutschland. Mal trifft es die Bodenseeregion, wo Menschen erschlagen und Campingplätze verwüstet werden. Mal trifft es Oberbayern und Schwaben. Bad Bayersoien ruft am Ende den Notstand aus. Sturm und Hagel richten dort an 80 Prozent der Gebäude schwere Schäden an. Die nächsten Schreckensmeldungen kommen aus der Arktis. Die Zone nördlich des Polarkreises erwärmt sich schneller als andere Regionen. Das Tauen der Permafrostböden dort zählen Forscher*innen zu den „Kipppunkten“ fürs Weltklima. Im Dorf Tuktoyaktuk, das bei strahlendem Sonnenschein erstmals Temperaturen von 30 Grad erlebt, ist zu sehen, wie der Boden unter den Häusern einsackt, weil meterdicke Eisschichten in der Erde wegschmelzen. Paul Overduin vom Alfred-Wegener-Institut ist als Forscher vor Ort. Der Prozess, warnt er, betreffe „auch uns in Europa“, denn er setze zusätzliche Treibhausgase frei.
Das Jahr 2023, glaubt man in Expertenkreisen, könnte zum heißesten der Menschheitsgeschichte werden. Laut Deutschem Wetterdienst war es durchschnittlich 4,4 Grad wärmer als in der vorindustriellen Zeit bis 1910. Welche Auswirkungen das hat, errechneten Wissenschaftler*innen des Centre National de Recherches Météorologiques in Grenoble. Sie präsentierten eine Studie mit Zukunftsszenarien für Wintersportzentren in 28 Ländern. Die Orte sind längst von unregelmäßigem Schneefall betroffen. Bei einem Anstieg der Durchschnittstemperatur von 1,5 Grad ist ein Drittel der Skigebiete Europas gefährdet, bei plus vier Grad müssten alle den Betrieb einstellen.
Der Wintertourismus ist nicht der bedeutsamste Wirtschaftszweig Deutschlands. Aber das Beispiel zeigt, dass die Folgen gravierend sein können. Heiße Trockenzeiten mit Waldbrandgefahr, Wassermangel, Dürre in der Landwirtschaft, Niedrigwasser in den Flüssen, wo der Transport von Massengütern zusammenbricht. Zwischendurch Starkregen mit Überschwemmungen, weil der ausgedörrte Boden weniger Wasser aufnehmen kann, Hitzeperioden in den Städten, die Kälteräume für die Bürger*innen schaffen und Altenheime klimatisieren müssen. Insekten wie die asiatische Tigermücke werden sich in ganz Deutschland ausbreiten.
Schon der schnelle Nachrichtenüberblick aus dem Sommer macht anschaulich, auf welche Dramatik sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einstellen müssen. Es braucht keine spekulativen Schreckensvisionen mehr – die Auswirkungen des Klimawandels deuten sich längst im realen Geschehen an. Was früher einzelne Wetterkapriolen waren, sind heute Vorboten einer Entwicklung, die beherztes Handeln erfordert.
Es geht alles schneller als gedacht
„Es ist ja nicht so, dass wir seit 1992 gar keine Klimaschutzmaßnahmen ergriffen hätten“, sagt Professor Schwarze vom Helmholtz-Institut. „Wir haben einen erheblichen Zubau an erneuerbaren Energien; der Kohleausstieg ist beschlossen und fast überall vollzogen. Insgesamt ist aber zu wenig passiert, und was die Erwärmung betrifft, so geht alles schneller, als wir ursprünglich gedacht hatten.“ Deutschland, schätzt Schwarze, werde sich stärker erwärmen, als im globalen Maßstab zu erwarten sei. Eine Folge der überwiegend kontinental-klimatischen Lage der Bundesrepublik. „Die Ozeane wirken bei uns nicht so stark dämpfend wie in anderen Regionen der Welt.“ Bayern müsse sich „auf mehrwöchige Hitzeperioden im Sommer über 30 Grad einstellen“ sowie auf „mehrjährige Dürreperioden in der Land- und Forstwirtschaft“. Im Gebirge kämen Sondereffekte hinzu, weil die Wetterlagen stärker und schneller wechselten als in der Ebene, Vorwarnzeiten für extreme Niederschläge seien kürzer. Der traditionelle Wintertourismus werde kaum aufrechtzuerhalten sein. Es gibt aber auch Positives: Die Sommersaison könnte länger dauern und neue Urlauber*innen kämen hinzu, die aus der Hitze des Südens in kühle Höhen flüchteten.
Vielleicht bringt ja das Thema Migration neuen Schwung in die Klimapolitik. In der Reduzierung der Treibhausgase hätten Politiker*innen ein wirksames Mittel, künftigen Flüchtlingsbewegungen vorzubeugen. Wenn nicht schnell und umfassend in Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen investiert werde, warnt die Weltbank, könnten durch globale Erwärmung bis 2050 über 200 Millionen Menschen gezwungen sein, ihre Heimatorte zu verlassen.
Ein Hotelbesitzer von Rhodos, dessen Gäste während der Brände auf der Insel evakuiert wurden, sagte mit Blick auf die zerstörte Urlaubslandschaft: „Ein Hotel ist ein Hotel, man kann es wieder herrichten, neu streichen. Aber mit der Natur da draußen ist es etwas anderes.“
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