Welche Art von Tourismus tut unserem Ort gut? Um diese Frage zu beantworten, hat die Gemeinde Lenggries ihre Bewohnerinnen und Bewohner befragt. Und mit ihnen einen Plan für die Zukunft gemacht.
Aber weil niemand mehr fliegen darf und auch die Grenzen Richtung Österreich geschlossen sind, erlebt die flächengrößte Gemeinde Bayerns im oberbayerischen Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen einen regelrechten Gästeansturm: Die Straßen an vielen Stellen sind dicht, die Einfahrten mit den Autos der Besucherinnen und Besucher zugeparkt. Vielerorts finden sich Picknickrückstände. Es gibt ein paar hitzige Wortgefechte, die Stimmung gegen die Gäste trübt sich spürbar ein. Am Eingang zum Tegernseer Tal, eine halbe Autostunde entfernt, haben Einwohnerinnen und Einwohner auf Schilder geschrieben „Münchner haut ab!“ So weit geht es in Lenggries nicht. Aber nicht wenige werden es vielleicht mit geballter Faust in der Tasche und tief drinnen gedacht haben.
Wir haben natürlich am Anfang auch nicht gewusst, auf was wir uns da einlassen. Aber für mich war der gesamte Prozess eine positive Erfahrung. Wir haben gedacht, vielleicht beschweren die sich nur und sagen, alles ist schlecht. Aber es waren durchweg positive Gespräche, die wir geführt haben. Viele haben sich für unsere Arbeit bedankt.
Seit Langem schon diskutieren sie in der Gemeinde Lenggries die Notwendigkeit eines neuen Tourismuskonzepts, in dem die Fragen beantwortet werden sollen, welche Angebote wünschenswert sind und wie man Gästeströme sinnvoll und für alle verträglich lenken kann. Doch durch die Besucherinnen und Besucher in der Coronazeit, die im Idyll von Lenggries Erholung suchen, bekommt das Thema neue Dringlichkeit. In der Vergangenheit waren es vor allem die dem Tourismusverbundenen großen Vereine, die versuchten, nachhaltige Perspektiven zu entwickeln. Vielleicht ist es kein Zufall, dass an deren Spitze durchweg starke, pragmatische, zupackende, kommunikationsstarke Frauen stehen. Die übrigens allesamt ehrenamtlich arbeiten.
Die Werbegemeinschaft zum Beispiel, deren Name etwas irreführend ist, denn seit 40 Jahren ist sie ein Zusammenschluss von Lenggrieser Einzelhändlerinnen und Einzelhändlern, kümmert sich um die Wirtschaftsförderung des Ortes. Oder der schon seit 70 Jahren bestehende Tourismusverein, der viele Freizeitanbieterinnen und -anbieter, Firmen wie auch Handwerkerinnen und Handwerker zusammenführt. Oder die Freizeitarena Brauneck, die das ganze Gebiet am Hausberg der Gemeinde, dem Brauneck, abdeckt und unter anderem die Interessen der Vermieterinnen und Vermieter von Ferienwohnungen, der Gleitschirmfliegenden, der Sommerrodel- und der Bergbahn vertritt. Sie alle suchen nach grundsätzlichen Antworten auf die Frage, wohin es mit der Gemeinde touristisch gehen soll. Wie kann die optimale Zukunft aussehen, bei der die Bedürfnisse der Einheimischen im Zentrum stehen und der Ort als Ganzes durch den Tourismus gestärkt wird? All diese Gruppen suchen nach Antworten. Aber noch sucht jede für sich.
Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass da auf einmal 80 Leute in der Turnhalle sind. Ich habe da viel mitnehmen können, es ist wirklich eine Symbiose entstanden. Uns ist allen klar, dass wir aus diesem Juwel, was wir haben, weiter schöpfen müssen und wirklich alles dafür tun müssen, es gut zu erhalten.
Weil sie wissen will, ob die gefühlt schlechte Stimmung gegen Touristinnen und Touristen wirklich so ist, kommt Maria Bader, die Chefin der Tourist Information, im Herbst 2022 mit dem frischen Wind ihres neuen Jobs auf eine Idee. Sie will eine Online-Befragung zur Akzeptanz des Tourismus durchführen lassen, quasi einen Blick in die Köpfe der Menschen, die gemeinsam den Ort Lenggries ausmachen. „Ich finde es einfach wichtig, den Bürgern zu zeigen, dass man ihre Probleme ernst nimmt, sie hört und in die Entwicklung mit einbindet. Nur wenn für die Bürgerin und den Bürger der Tourismus in Ordnung ist, fühlt sich ein Gast ja bei uns auch richtig willkommen.“ Tourismus geht eben einfach alle an. In Lenggries haben sie dies als grundsätzliche Herausforderung erkannt. Und gelöst. Aber der Reihe nach.
Das Tourismusamt stellt die Aktion damals auf seine Homepage, bewirbt sie auf Social Media und hängt – ein bisschen analoge Wahrnehmung muss schließlich auch sein – insgesamt fast 50 Plakate auf. Die Befragung der Lenggrieser Bürgerinnen und Bürger besteht aus einer Mischung aus offenen und geschlossenen Fragen, bei denen nur ein Kreuzchen gesetzt werden muss. Rund zehn Prozent aller Einwohnerinnen und Einwohner ab 16 Jahren – deutlich mehr als von den Organisatoren erwartet – nehmen im Oktober 2022 an der Befragung teil.
Mein Aha-Effekt war während des Workshops, als ich zum ersten Mal merkte, dass eigentlich relativ viele in die gleiche Richtung schwimmen. Das konnte man vorher tatsächlich schwer einschätzen, weil man das Feedback von den Einheimischen so gebündelt ja gar nicht hatte.
Die Ergebnisse, die schließlich auf dem Schreibtisch von Maria Bader landen, sind erstaunlich: Ein Großteil der Befragten hat nämlich gar kein grundsätzliches Problem mit dem Tourismus. Die Bewohnerinnen und Bewohner wissen, dass die Gäste existenziell sind für eine Gemeinde, deren Einnahmen immerhin zu einem Drittel dank des Tourismus entstehen. Die Lenggrieserinnen und Lenggrieser wünschen sich jedoch weniger Tagestourismus zugunsten von mehr Übernachtungen. Sie wollen besser informiert werden. Und: Sie wollen an der Entwicklung des Tourismus mitarbeiten. Sich einbringen und gehört werden, wenn es um die Zukunft ihres Ortes und ihrer Heimat geht.
Ursprünglich will das Tourismusamt die Aktion selbst durchführen, die Mitarbeitenden merken aber schnell, dass es hierzu professioneller Unterstützung bedarf: Die Befragung und Auswertung übernimmt deshalb ein Tourismusberatungsunternehmen aus München, die dwif Consulting GmbH. Deren Expertinnen und Experten sind es auch, die als nächsten Schritt ein Bürgerinnen- und Bürgerforum vorschlagen.
Der Gemeinderat billigt (und stellt dafür auch das Budget zur Verfügung), was nun „Ideenwerkstatt“ heißt. Am 17. März 2023 ist es schließlich so weit: An einem Freitagabend um 18:30 Uhr strömen 80 Personen in die örtliche Turnhalle. Die Organisatorinnen und Organisatoren haben Stationen eingerichtet, an denen die wichtigen Hauptpunkte (besondere Angebote für die Bevölkerung, Gästeunterkünfte, Verhalten der Gäste u. a.) zur Sprache gebracht werden. Die Lenggrieserinnen und Lenggrieser werden mit Stift und Zettel ausgestattet und ihre Aussagen an eine Holzwand gepinnt. Dann diskutieren sie. Mehrere Stunden lang. Auch später noch können Beiträge per E-Mail nachgereicht werden. Normalerweise sind ja nur Leistungsträger oder Gastgeber und Gastgeberinnen in Kontakt mit der Tourist Information. Aber jetzt und hier kommen alle miteinander ins Gespräch. Der Austausch über ihre Zukunft hat begonnen.
Man kann sich ja nicht zurücklehnen und sagen ‚Es ist alles super!‘, und ein paar Jahre später ist man von der Zeit überholt worden. Es ist ein ständiger Prozess. Was passiert in der Gesellschaft? Und wie können wir darauf reagieren?
Erneut wird der Abend von der dwif ausgewertet, am 21. August 2023 stellt Maria Bader die Ergebnisse im Gemeinderat vor. Und einige der abgeleiteten Handlungsempfehlungen gleich mit: Eine neue Beschilderung zum Beispiel, mehr Sitzbänke im Ort und zusätzliche Toiletten an den Wanderwegen. In den kommenden Monaten wird ein Maßnahmenplan entwickelt werden. Einiges steht schon heute fest: So werden im nächsten Jahr an der Isar Holzliegen aufgestellt und ein digitaler Themenweg erstellt. Neben vielen kleinen Maßnahmen soll aber, so die Empfehlung der dwif, vor allem ein neues, sogenanntes „Tourismusleitbild“ erarbeitet werden; das aktuelle stammt noch aus dem Jahr 2017. Einigkeit herrscht in der Gemeinde darüber, dass es ein Leitbild und kein Konzept werden soll, da ein Konzept auf fünf bis zehn Jahre ausgelegt und somit eher unflexibel ist. Maria Bader: „Der Tourismus ist ja so schnelllebig, dass er sich oft schon in ein bis zwei Jahren wieder verändert hat. Deshalb wollen wir uns nicht in ein Konzept zwängen lassen, das uns am Ende die Handlungsmöglichkeiten nimmt.“
Was ich auch gelernt habe: Ich bin eine Macherin, die sofort in Aktion tritt. Andere aus dem Team wollten alles von der Pike aufrollen und erstmal durchdiskutieren. Genau diese unterschiedlichen Vorgehensweisen haben uns noch mehr zusammengeschweißt und uns wirklich auf den gemeinsamen Weg gebracht.
Die Auswirkungen der Ideenwerkstatt, die Vorbildcharakter auch für andere Gemeinden haben könnte, sind schon jetzt größer als zunächst angenommen. Vor allem wirken sie in die Vereine, die die Veränderungen angestoßen haben: Weil sie in vielen Workshops und bei der Suche nach ihrer Zukunft so gut zusammenwirkten, haben die Vereine erkannt, dass sie noch mehr erreichen können, wenn sie die Vereinsstruktur ändern und ihre Kräfte bündeln. Und genau das ist der Plan. Bis Weihnachten soll es einen neuen Verein geben, in dem alle drei bisherigen Einzelvereine in einer Art Dachverband aufgehen werden: den IsarAlpental Regionsmarketing e. V.
Der Zusammenschluss soll vor allem die Kompetenzen im Tourismusbereich bündeln und die Kommunikation fördern. „Außerdem werden wir mehr Geld haben und auch politisch mehr Schlagkraft“, sagt Gabriele Daffner von der Freizeitarena Brauneck, die es in dieser Form dann nicht mehr geben wird. Weil auch die Freizeitarena dann Teil des großen Dachverbandes geworden sein wird – der dann die Zukunft des Tourismus in Lenggries mitgestaltet.
Menschen mitentscheiden zu lassen und einzubeziehen, bietet nicht nur eine ganze Reihe von Vorteilen, sondern eröffnet auch innovative Perspektiven. Partizipation befriedigt drei psychologische Basisbedürfnisse des Menschen: Autonomie, Kompetenz und soziale Beziehungen, sagt Stefan Diestel, Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Wuppertal. Lässt man Menschen an Veränderungsprozessen teilhaben und dank Partizipation mitbestimmen, so sorgt das messbar für mehr Motivation, Zufriedenheit, innovativere Vorschläge und gesteigerte Hilfsbereitschaft. Menschen, die mitentscheiden dürfen, werden sogar seltener krank. Das gilt für Mitbestimmung in vielen unterschiedlichen Arten von Gruppen wie Vereinen, Firmen oder Gemeinden, die etwas verändern oder sich neu organisieren wollen. Entscheidend ist, so Diestel, dass der Partizipationsprozess Regeln bzw. Schritten folgt. Diese sind:
Alles ganz einfach also? Zu den klassischen Fallstricken der Partizipation gehört die Nichtumsetzung der beschlossenen Maßnahmen. „Wenn am Ende nicht auch gehandelt wird, ist das für alle enttäuschend und ein Schlag für die Motivation, weil die Partizipation dann eigentlich nur eine Gesprächsrunde war. Und das ist zu wenig. Kommen Sie also am Ende ins Machen, das motiviert das Team.“
© Canva, Tourismus Lenggries / Adrian Greiter, Eva Maria Hofer (privat), Nadine Meyer (privat), Turnhalle (Maria Bader privat), Gabriele Daffner (privat), Magdalena Reiser (privat),