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{{postCount}} „Zu Hause bleiben ist keine Option“
Schon die alten Ägypter verreisten. Und auch wir wollen unbedingt mobil sein. Die Tourismus-Soziologin Prof. Dr. Kerstin Heuwinkel erklärt, warum das so ist

„Zu Hause bleiben ist keine Option“

© htw saar / Mats Karlsson
An der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlands ist Kerstin Heuwinkel seit 2005 Professorin für Internationales Tourismus-Management mit Schwerpunkt Tourismus- Soziologie. Sie ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft DGT e. V. und im Arbeitskreis Tourismusforschung der Deutschen Gesellschaft für Geographie e. V.

Frau Prof. Heuwinkel, zu Anfang eine Frage, die banal klingt: Warum reisen Menschen eigentlich?

Aus ganz vielen Gründen. Aus Gewohnheit zum Beispiel, weil es für viele Menschen von Kindheit an dazugehört. Weil man damit Erholung für Körper und Seele verbindet. Erholen kann man sich theoretisch zwar auch in den eigenen vier Wänden, aber in der Praxis funktioniert das selten, weil man dann doch arbeitet, aufräumt, nicht aus dem Alltag herauskommt. Man reist ja auch, um einmal Abwechslung zu haben. Reisen sind besondere Momente, die das Leben strukturieren. Da kommt dem Reisen, also dem Tourismus, eine ähnliche Funktion zu wie Festen oder bestimmten Ritualen.

Natürlich hängt die Reiselust auch vom Typ ab. Manche Menschen sind durchaus zu Hause glücklich, während andere von Entdeckungslust, Neugier und auch einer gewissen Abenteuerlust getrieben sind. Übrigens lässt sich schon von den alten Ägyptern nachweisen, dass sie gereist sind. Und zwar aus kulturellen Gründen. Sie wollten also Orte besuchen, von denen gesprochen wurde. Auch gesundheitliche Motive spielten eine Rolle, wie später auch bei den alten Römern, die in Thermalbäder reisten.

Was macht das Reisen mit den Menschen?

Es gibt mir ein gutes Gefühl, ich erlebe Dinge, es ist ein bisschen Abenteuer dabei, ich habe zu Hause etwas zu erzählen und es bringt mir einen guten Status. Wir haben Interviews geführt mit 90-Jährigen, und wenn man die fragt, an was sie sich erinnern aus ihrem Leben, dann kommen erst schöne Dinge wie Heirat und die Geburt von Kindern, dann Negatives wie Kriegserlebnisse, aber an dritter Stelle steht immer das Reisen.

Das Reisen gibt uns ein gutes Gefühl.

Die technischen Möglichkeiten, sich virtuell an andere Orte zu bewegen, werden immer ausgefeilter und realistischer. Wird das echte Reisen womöglich bald gar nicht mehr nötig sein?

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir trotz aller Digitalisierung und Virtualisierung immer noch körpergebunden sind. Aus der Kognitionswissenschaft wissen wir, dass der Mensch denken kann, weil er Körper und Gefühle hat. Wenn ich also meinen Standort verändere und dort die andere Temperatur wahrnehme und den Wind, wenn ich das Meer höre und fremde Gerüche rieche, dann spüre ich meinen Körper, und das ist wichtig. Dazu muss ich nicht weit wegfahren, das kann schon bei einer Wanderung im Bayerischen Wald geschehen oder in einer Ferienwohnung in Berchtesgaden.

In den letzten Jahren ist viel passiert – Pandemie, Klimakrise, Kriege – was die Reiselust theoretisch hätte dämpfen können. Das ist aber nicht passiert. Woran liegt es, dass die Menschen trotz allem unterwegs sein wollen?

Gerade weil wir aktuell überall Bedrohungen wahrnehmen, wird es so wichtig für uns, einfach mal fünf oder zehn Tage weg zu sein. Zeit für uns zu haben und alles andere zu ignorieren. Corona hat gezeigt, dass das Reisen auf einmal nicht mehr möglich sein kann. Womöglich denken sich die Menschen deshalb gerade auch: Bevor noch einmal so etwas passiert, reise ich lieber jetzt. Und nutze den Moment.

Hat unser Reisebedürfnis womöglich auch biologische Ursachen, gegen die wir nicht ankönnen?

Ob es dafür tatsächlich biologische Ursachen gibt, ist in der Forschung sehr umstritten. Es finden immer wieder Untersuchungen statt, ob wir eine Art Wandertrieb in uns tragen, aber ich bin da sehr skeptisch und würde eher von kulturellen Ursachen ausgehen. Die Idee des Reisens hat sich innerhalb der Gesellschaften entwickelt. Es gab da immer schon die Reisenden, die Händler, die in die Dörfer kamen und dort von ihren Erlebnissen erzählt haben. Und die dadurch die Impulse gegeben haben.

Unsere Reiselust hat kulturelle Ursachen.

Wie lässt sich denn die Bewegungs- und Reiselust des Menschen steuern?

Zum Glück dürfen wir uns frei bewegen. Was wollte man denn steuern? Den Autoverkehr? Die Vorstellung „ich setze mich ins Auto und komme überall hin“ ist sehr stark in den Köpfen verankert. Die Nachteile werden ausgeklammert. Auf dem Weg in den Urlaub zehn Stunden im Stau gestanden? Das nehmen die Menschen in Kauf. Auch das manche Destinationen sehr voll sind. In Paris bei den French Open stehen die Leute klaglos zwei Stunden nach Karten an. Weil sie eben unbedingt dort sein wollen. Vernunft steuert das Mobilitätsverhalten des Menschen nicht unbedingt. Denn der Einzelne schaut immer nur auf sich selbst. Er sagt: Es sind Sommerferien, ich will jetzt nach Italien fahren. Dass sich Millionen andere Menschen auch auf den Weg dorthin machen, darauf hat er keinen Einfluss.

Eine Option könnte aber sein, Städte und Regionen innerhalb Deutschlands attraktiver zu gestalten. Wir brauchen intelligente Angebote dafür, dass Urlaub in Deutschland stattfindet, denn da gibt es viele attraktive Möglichkeiten. Vielleicht sollte man auch mal herausfinden, aus welchen Gründen Menschen, die nicht in Deutschland Urlaub machen, immer ins Ausland reisen. Die Antwort würde mich interessieren.

© htw saar / Mats Karlsson