Die Kneippsche Lehre ist 150 Jahre alt. Doch auf einmal ist sie wieder in aller Munde. Herr Holetschek, Sie sind seit 2017 Präsident des Kneipp-Bunds und wissen es am besten: Warum ist Kneippen im 21. Jahrhundert auf einmal wieder so zeitgemäß?
Die Menschen spüren wieder, dass sie selbst verantwortlich für ihre Gesundheit sind. Das Interesse und die Akzeptanz für sanfte und natürliche Methoden zur Erhaltung der Gesundheit ist in unserer Gesellschaft sehr groß. Die moderne Medizin braucht ein patientenorientiertes Gesundheitswesen, in dem die Naturmedizin einen gleichberechtigten Platz neben der Schulmedizin hat. Sprich: In der gegenseitigen sinnvollen Ergänzung von konventionellen und naturmedizinischen Therapien zu einer Integrativen Medizin liegt die Zukunft. Viele Menschen wünschen sich eben eine ganzheitliche Wahrnehmung, also dass Körper, Geist und Seele als Einheit betrachtet werden. All das ist in der Kneipp-Lehre mit den fünf Elementen Wasser, Heilpflanzen, Bewegung, Ernährung und Lebensordnung enthalten. Kneipp war ein Visionär, die seelische Gesundheit ist ein wesentlicher Bestandteil seines Gesundheitskonzeptes. Insofern ist auch einer der „Kneippschen Leitgedanken“ zu verstehen: „Jede Anwendung ist gleichzeitig eine Zuwendung.“
Was bietet die Kneipp-Lehre, das andere Gesundheitsansätze so nicht bieten?
Die Ganzheitlichkeit, wie sie sich in den fünf Elementen ausdrückt. Die ist in unseren Breiten wirklich einmalig. In gewisser Weise hat Kneipp damit die „traditionelle europäische Medizin“ geprägt, also unser westliches Gegenprogramm zu ganzheitlichen Ansätzen wie Ayurveda oder der Traditionellen Chinesischen Medizin. Kneipp ist die Basis und die Wurzel dafür.
Welche Gäste-Zielgruppen eignen sich Ihrer Meinung nach besonders für Kneipp-Angebote?
Die Kneippsche Lehre spricht alle Menschen an, da würde ich gar nicht differenzieren. Kleine und große Menschen, gesunde und kranke. Der Kneipp-Bund zertifiziert seit einigen Jahren Kindertageseinrichtungen, in denen die Kinder lernen, verantwortlich für ihre Gesundheit zu sorgen. Und Senioreneinrichtungen, weil eine Studie ergeben hat, dass mit der Integration naturheilkundlicher Maßnahmen nach der Gesundheitslehre von Sebastian Kneipp in der Pflege älterer Menschen viel erreicht werden kann. Diese bekannten fünf Elemente könnten übrigens durch zwei weitere Elemente ergänzt werden, die in der Kneippschen Lehre zwar nicht konkret angesprochen, aber doch schon angelegt sind: Ökologie und Soziale Bindung. Das sind Themen, von denen sich ebenfalls ganz viele Menschen angesprochen fühlen. Das Bewusstsein für Natur und Umwelt einerseits und soziale Nähe und Wärme andererseits. Immer mehr Menschen leiden an Einsamkeit, das hat auch die Coronakrise gezeigt. Und da wirkt die Kneipp-Lehre mit ihren Berührungen, der Achtsamkeit, auf den ganzen Menschen äußerst wohltuend.
Passen Kneipp-Angebote eigentlich zu wirklich jedem Urlaubsort, zu jeder Unterkunft, in jedes Gesundheits-Konzept?
Ja, wenn man diesen Weg bewusst geht, sich wirklich bemüht, dann gibt es keine Kontraindikationen! Kneipp ist als Gesundheitskonzept meiner Meinung nach eines der besten. Man sollte sich da beraten lassen vom Kneipp-Bund, vom Verband Deutscher Kneippkurorte und Kneippheilbäder oder auch vom Bayerischen Heilbäderverband.
Welche Kneipp-Elemente lassen sich besonders umstandslos in ein schon bestehendes Gesundheitskonzept eines Hotels einbinden?
Ich halte nichts davon, einfach nur eine Wassertretanlage hinzustellen. Damit wird man dem ganzheitlich gedachten Gesundheitskonzept nicht gerecht. Wenn schon, dann das komplette Programm! Wobei ich empfehle, besonders auf das Element der inneren Ordnung zu achten. Heute würde man es Work-Life- Balance nennen. Das wird als Basis für ein gesundes Dasein immer wichtiger. In jedem Fall muss man sich eindeutig positionieren. Kneipp darf nicht einfach nur ein „add on“ sein.
Was muss ein Urlaubsort bieten und leisten, um die staatliche Anerkennung als Kneipp-Kurort oder Kneipp-Heilbad zu erhalten?
Bisher haben wir in Bayern elf anerkannte Kneipp-Kurorte und -Heilbäder. Um dazuzugehören, muss eine Kommune das erst einmal wollen. Die bayerische Verordnung über die Anerkennung als Kur- oder Erholungsort ist hier maßgebend. Beispielsweise muss ein Kneippkurort über ein ausreichendes Angebot an Kureinrichtungen und über mindestens drei geeignete Kurbetriebe zur Durchführung einer Kneippkur verfügen. Hat sich dieser Ort mindestens zehn Jahre als Kneippkurort bewährt, kann er zum Kneippheilbad aufsteigen. Doch das Wichtigste ist meines Erachtens, dass ein Ort sich nicht nur mit der Plakette schmückt, sondern sich sichtbar identifiziert mit der Kneippschen Lehre, sie rundum lebt! Vom Bürgermeister bis zum Bademeister müssen die Bewohner wirklich dahinterstehen, alle müssen mitmachen. Das spürt dann auch der Gast, und erst das wirkt überzeugend.
Welche Rolle spielt Kneipp in Ihrem Privatleben?
Ich bin in Bad Wörishofen, der Wiege der Kneippkultur, aufgewachsen und war dort zwölf Jahre lang Bürgermeister. Das prägt! Ich identifiziere mich stark damit und lasse mir gern einen Gesichtsguss verabreichen. Der stärkt und erfrischt!
Fotos: Portrait: Andi Frank, alle anderen: bayern.by/Tobias Gerber