Der krankheitsfreie Zustand von Körper, Geist und Seele, den wir in der westlichen Welt lange als schicksalsgegeben betrachtet haben oder zumindest als Zuständigkeitsbereich der Fachwelt, ist ein Megatrend. Gesundheit ist dabei, sich zum selbstbestimmten Lebensziel zu entwickeln, das der Einzelne souverän und kenntnisreich in die Hand nimmt. Gesundheit mausert sich zum Statussymbol, das unabdingbar ist für gesellschaftliche Anerkennung. Sie wird ganzheitlicher Lebenssinn.
So jedenfalls sieht es das Zukunftsinstitut, ein renommierter Think-Tank der Trendforschung mit Sitz in Frankfurt und Wien. In ihrer großen Megatrend-Dokumentation zum Thema Gesundheit haben die Experten unter anderem herausgefunden, dass die Menschen künftig immer mehr aktiv für ihre Gesundheitsverbesserung tun werden. Und dass sie dafür auch richtig Geld ausgeben wollen. Das klingt nach großartigen Nachrichten und Möglichkeiten für Bayern. Schließlich ist der Freistaat eines der TOP-Gesundheitsreiseziele in Deutschland. Doch wie könnte gesunder Urlaub in zehn Jahren aussehen? Worauf müssen sich die bayerischen Heilbäder und Kurorte und die gesamte Tourismusbranche einstellen? Wie können sie sich am besten auf die gesunde Zukunft vorbereiten? Wir haben uns dazu die Gesundheitsstudie des Zukunftsinstituts einmal ganz genau durchgelesen. Und dessen Geschäftsführer Harry Gatterer gefragt, was sich im Gesundheitstourismus ändern muss, damit die Umstellung gelingt. Er hat uns mit fünf Thesen geantwortet, die wir hier vorstellen.
So lange ist es noch gar nicht her, dass ein verschriebener Kur-Aufenthalt als einzig vorstellbare Form von Gesundheitstourismus galt. Der von Arthritis geplagte Gast reiste aus einem stressigen Arbeitsumfeld an. Im Kurhotel absolvierte er pflichtgemäß Trinkkuren oder Badeanwendungen. Später setzte er sich vielleicht noch kurz auf das Trimm-Rad, um danach bei Sahnetorte, Schweinsbraten und Bier über den neuen Medikamentverschreibungen des Badearztes zu brüten, eines reinen Schulmediziners. Denn selbst wusste er nur wenig über seinen Zustand, die medizinischen Zusammenhänge. Danach schlief er schlecht, wegen des Autoverkehrs draußen und des Fernsehers des Zimmernachbarn.
Lange wurde Gesundheit als ein isolierter, rein das Körperliche betreffen- der Aspekt des menschlichen Zustands betrachtet, in dem die unsympathische Antipode – die Krankheit – immer leise mitschwang. Man tat etwas für die Gesundheit, weil es eben sein musste. Nicht, weil man Lust dazu verspürte. Das hat sich geändert. Gesundheit ist auf dem besten Wege von einem anzustrebenden Zustand zu einem ganzheitlich verstandenen Lebenssinn, der alle Bereiche des Lebens umfasst und in dem die physische und psychische Dimension miteinander verschmelzen. Gleichzeitig soll Gesundheit auch Spaß machen. Verkrampftes, leistungsorientiertes Sporteln und die entsprechende Askese machen einem gesunden Hedonismus Platz, in dem gilt: „Genuss in Maßen kann nur guttun!“
Der Gesundheitstourist der Zukunft, bestens informiert und proaktiv unterwegs, erwartet daher ein Urlaubsziel, in dem er Gesundheit rundum erfahren kann: vom Hotelzimmer mit Elektrosmog-Abschirmung bis hin zum bio-regionalen Frühstücksbuffet, von Sportangeboten in der freien Natur bis hin zu schadstoffarmer Umgebung, von gesundem Schlaf mit Zirbenholzkissen und Kokosmatratzen bis hin zum Ayurveda-geschulten Hotelarzt.
Zu den Megatrends, die unsere Gesellschaft in der nächsten Dekade prägen werden, zählt für das Zukunftsinstitut auch die sogenannte Neo-Ökologie. Die Rede ist von einer Nachhaltigkeit, die zum Wirtschaftsfaktor wird und sämtliche Lebensbereiche umfasst. Konkret drückt sich das in einer Reihe von Subtrends aus: Achtsamkeit und Bio-Boom, E-Mobility und Flexitarismus, Minimalismus, Sharing Economy und Slow Culture beispielsweise werden auch im Tourismus deutlich spürbar werden.
In einer perfekten neo-ökologischen Welt reist der Gast an seinen Urlaubsort und bewegt sich vor Ort mit dem Fahrrad oder per Car-Sharing weiter. Er bezieht ein nach baubiologischen Kriterien errichtetes Hotel, das nachhaltig wirtschaftet und vielleicht sogar nach dem Prinzip der Gemeinwohlökonomie geführt wird. Sein Frühstücksomelette besteht aus Eiern vom Nachbarhof, im Salat stecken Gurken und Paprika aus dem eigenen Biogarten. „Ernährung hat einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit, sie muss unbedingt mitgedacht werden, wenn ein Konzept künftig erfolgreich sein soll“, rät Gatterer. Ferner wird der Gast nicht mehr mit einer überbordenden Aktivitätenvielfalt nach dem Motto „Für jeden was dabei“ bespaßt, sondern wählt aus einem bewusst reduzierten, aber sinnvollen Programm aus, das zum Gesamtkonzept des Hauses passt.
Weniger ist mehr, lautet künftig die Devise. Im Wellnessbereich braucht es nur noch zwei Saunen. „Wichtiger werden dafür Rückzugsorte, an denen der Gast ungestört ganz für sich sein kann“, glaubt Gatterer. Und das Sportangebot? Braucht kein teures High-Tech-Equipment. Gatterer zufolge können sich die Destinationen auf ein stark wachsendes Interesse an Sportarten wie Wandern, Radfahren und Skitouren einstellen, die der Gast in unverfälschter Natur und im Einklang mit sich und seiner Umwelt ausüben kann.
Man sieht es schon am Boom von Fitness-Apps, Detox-Smoothies und kostspieligen Ayurveda-Kuren: Gesundheit ist zum Statussymbol geworden. Wie früher das neue Auto, zeigt man heute seinen prestigeträchtigen Einsatz für körperliche und geistige Leistungsfähigkeit. Denn die, so die Studie des Zukunftsinstituts, steht für Erfolg im Leben. Umgekehrt gilt aber auch: Wer sich nicht um seine Gesundheit kümmert – wer raucht, keinen Sport treibt und die Freizeit mit der Chipstüte auf dem Sofa verbringt –, wird als verantwortungslos und unsozial wahrgenommen.
Ihren neuen „Mercedes“ lassen sich die Menschen künftig auch richtig was kosten. Die Ausgaben der privaten Haushalte für die Gesundheit haben sich laut Studie in den letzten zehn Jahren um fast ein Drittel erhöht. Auch, weil der Trend zu immer größerer gesundheitlicher Selbstverantwortung geht. Die Überzeugung wächst: Wenn ich heute Geld für meine Gesundheit ausgebe, dann ist das die beste Investition in ein längeres und besseres Leben. Für gesunde Ernährung, nachhaltige Design-Möbel und gesunden Urlaub greifen die Menschen also tief in die Taschen.
Was bedeutet das für die Gesundheitsdestinationen? Müssen sie maximal aufrüsten und ihre Angebote auf den allerneuesten technischen Stand bringen, um den Ansprüchen der neuen, gesundheitsaffinen Zielgruppen gerecht zu werden? Nicht unbedingt, findet Gatterer. In seinen Augen sieht es vielmehr so aus, dass „Gesundheitsangebote gegenüber anderen künftig eine Vorreiterrolle einnehmen. Sie gehen auf Kosten überambitionierter und Stress erzeugender Freizeitangebote“. Statt immer neuer Technologien sei für ein Hotel zum Beispiel eine Rückkehr zu den Kernkompetenzen „sinnvoll und glaubhafter“. Hier könnten Kooperationen das Bild des gesamten Urlaubsortes stärken. Wenn das eine Hotel also ein tolles Gesundheitsangebot hat, das andere dagegen durch Freizeitangebote besticht, dann bringt die Zusammenarbeit allen etwas – dem Gast, dem Gastgeber und dem Ort.
Für Harry Gatterer wird sich das neue Gesundheitsverständnis massiv auf die Produktentwicklung
im Tourismus auswirken. Sicher auch noch angetrieben durch das steigende Wissenslevel und Selbstverantwortungsgefühl des Einzelnen wird das Bedürfnis an „echter Gesundheit“ steigen. Immer weniger Touristen werden der Überzeugung sein, dass der Besuch einer Mega-Saunalandschaft und ein dieselqualmender Quad-Ausflug durch „unberührte Bergwelt“ tatsächlich der Gesundheit förderlich ist. „Gesundheit im Urlaub wird eine seriöse Größe sein und nicht mehr nur eine Lifestyle-Variable“, prophezeit Gatterer.
Eine Entwicklung, die sich in seinen Augen nicht nur durch die Corona-Erfahrung beschleunigen wird, sondern längerfristig gesehen auch durch einen demographischen Umstand: Unsere Gesellschaft wird immer älter. Das heißt, dass immer mehr Menschen immer ernsthaftere Gesundheitsangebote erwarten. „Die Silver Society ist längst da“, sagt Gatterer. „Es redet nur niemand mehr darüber.“
Gefragt werden in Zukunft also echte Gesundheitsangebote statt allgemeine Wohlfühl- und Genusspakete, deren medizinischer Nutzen in erster Linie in der persönlichen Wahrnehmung besteht. „Entspannungsmassage und Schweinsbraten, das wird künftig nicht mehr durchgehen!“, schmunzelt der Experte.
Ein aufrichtiger Händedruck statt lapidaren Standardfloskeln an der Rezeption. Bei der Therapie dann liebevolle Anteilnahme statt supermoderner Medizintechnik. Und zum Abendessen lieber ein kräftiges Käsebrot mit Gurken aus dem Bauerngarten anstelle von siebzehn kreativ hochgezüchteten Vorspeisevariationen. Wenn die Tage der Erlebniskultur und der Hyper-Individualisierung im Reisesektor gezählt sind, dann gilt das erst recht auch für den Gesundheitstourismus. „Wir alle leben in einem Overflow an Informationen, Bildern, mentalen Erlebnissen“, führt Gatterer aus. „Erlebnisaktivitäten haben daher heute kaum noch einen Mehrwert. Noch ein zusätzlicher Freizeitpark, ein sensorieller Themenweg? Das bringt den Urlaubern keinen Zusatznutzen mehr. Die Menschen sehnen sich vielmehr nach echten menschlichen Begegnungen.“
Die Zukunft des (Gesundheits-) Tourismus steckt für Gatterer in der Resonanzerfahrung. Resonanz spiegelt das große Grundbedürfnis der Menschen nach Zugehörigkeit wider, nach Verbundenheit, nach Beziehungen zu anderen Menschen und zur Umgebung. In der großen Flut an Informationen und Erlebnissen, die uns alle mitzureißen droht, will der Einzelne wieder Anker setzen – durch tiefes und echtes Wahrnehmen der Dinge. Er wünscht sich Authentizität, Ehrlichkeit, Unverfälschtheit. Nach einer Gastlichkeit, die zutiefst menschlich ist und nicht in erster Linie professionell. Und eine solche Gastlichkeit – davon lässt sich wohl ausgehen – ist mit Sicherheit auch ausgesprochen gesund.
Bilder: Cover: ©Bayern.by-Gert Krautbauer, Portrait: Wolf Steiner