Die Reise in digitale Parallelwelten hat längst begonnen. Auch im Tourismus, wo Virtual Reality und Augmented Reality die Reisefreude anheizen und für nachhaltige Erfahrungen sorgen
Willkommen in der Zukunft. Willkommen auch im Metaversum, dem Internet der nächsten Generation. Das Metaversum ist eine neue digitale Realität aus virtuellen Erlebniswelten, die durch künstliche Intelligenz, 5G und Blockchain-Technologie möglich gemacht wird und in der die Menschen – oder auch ihre Avatare – künftig viel von dem machen können werden, was sie bislang noch eher in real life zu erledigen pflegen: arbeiten, kommunizieren, einkaufen, Geld anlegen, Freunde treffen, Konzerte anhören. Und verreisen.
Vielleicht bleibt es auch weitgehend Fantasie. Im Tourismus aber ist die sogenannte Extended Reality längst angekommen. Der Begriff umschließt sämtliche Formen von computergenerierten Objekten und Umgebungen – vor allem Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) –, die sich durch das Verhältnis zwischen virtueller und realer Welt unterscheiden (siehe Kasten auf S. 57). VR kommt im Tourismus bislang vor allem in einer sehr sanften Ausprägung vor: Destinationen oder Unterkünfte ermöglichen es Interessenten, sich per Mausklick durch 360-Grad-Bilder oder -Videos zu bewegen, damit sie sich eine realistische Vorstellung vom kommenden Reiseerlebnis machen können. Doch die Reise geht flott in Richtung Metaverse. Wie das einmal aussehen könnte, macht Seoul vor, das die erste Stadt im Metaversum sein und in den nächsten zehn Jahren zahlreiche Dienstleistungen und kulturelle Events im virtuellen Raum verfügbar machen will. Die Menschen sollen schon bald Sehenswürdigkeiten wie den Gwanghwamun-Square oder den Namdaemun-Markt virtuell besuchen und ebenso virtuell am Laternen-Fest teilnehmen können.
Logisch weitergedacht, könnte VR früher oder später zu Virtual Tourism führen. Womöglich steigen in der Zukunft Texaner, Chinesinnen, Italiener und Niedersächsinnen nicht mehr ins Flugzeug oder in den Zug, sondern erleben Bayern in den eigenen vier Wänden. Mit Headsets und verdrahteten Haptik-Handschuhen tauchen sie tief in bayerische Feriensituationen ein. Sie besuchen einen Biergarten, hören die Blasmusik und können nach vollgeschenkten Maßkrügen greifen (allerdings nicht daraus trinken). Sie machen eine Segeltour auf dem Chiemsee, samt Wellengang und Wasserspritzern auf der Brille. Schweben mit dem Riesenrad über das abendliche Oktoberfest in München. Oder flanieren durch eines der Märchenschlösser, wo ein Avatar von Hausherr Ludwig II. höchstpersönlich den Speiseaufzug vorführt.
Das hört sich nach unfairer Konkurrenz für die Anbieter echter Reisen an, muss es aber nicht sein. VR ermöglicht Erlebnisse für Menschen, die sich aus den verschiedensten Gründen sonst gar nicht in Bewegung gesetzt hätten. Wer dagegen „in echt“ reisen kann, wird das auch weiterhin tun, weil das unmittelbare Erlebnis, das Riechen und Schmecken, die Begegnung mit anderen Menschen durch nichts zu ersetzen sind. VR könnte künftig aber als intelligente Ergänzung des Angebots zum Einsatz kommen, denn sie bietet einen Vorgeschmack, weckt Reiselust, inspiriert.
Auch Tourist*innen, die bereits vor Ort sind. Die Schweizer Bergbahngesellschaft Corvatsch AG macht es mit virtuellem Action-Kino vor: An der Bergstation der Diavolezza-Bahn können ich Sommergäste kostenlos eine VR-Brille ausleihen, es sich in Drehsesseln bequem machen und dann sechseinhalb Minuten lang die winterliche Engadiner Bergwelt erleben. Sie schwingen durch den Tiefschnee talwärts, amüsieren sich im Snowpark, klettern mit Steigeisen auf den Piz Palü, bei strahlendem Himmel und besten Schneeverhältnissen. Einbußen an „echten“ Besuchern muss die Bergbahn nicht fürchten, denn die Brille gibt’s erst auf der Bergstation, also nach Erwerb zum Beispiel des Rückfahrtickets zu 46 Franken. Dafür dürfte manch begeisterter Kinobesucher dann auch einen Winterurlaub im Engadin in Erwägung ziehen. Und das wäre ganz im Sinne des Erfinders.
Augmented Reality ist weniger immersiv als Virtual Reality und beginnt mit unkomplizierten Lösungen wie schlichten QR-Codes, die der Gast mit seinem Smartphone scannt, um so etwa bei einem Stadtbummel Zusatzinfos zu bestimmten Sehenswürdigkeiten zu erhalten – Content auf Abruf. Das kann in Form einfacher Texte geschehen, geht aber auch schicker: Die App LIMES mobil etwa, die das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege mitentwickelt hat, erweckt die römische Vergangenheit am bayerischen Donaulimes wieder zum Leben. Aktuell sind zu 23 Point of Interests (POIs) am Donaulimes Inhalte integriert; weitere sollen folgen. In Eining bei Kelheim wurde beispielsweise der römische Tempel auf dem Weinberg virtuell in 3D rekonstruiert, sodass sich Besucher*innen im Tempelinneren umsehen und die Statuen von Mars und Victoria von allen Seiten betrachten können. Auch längst verschwundene römische Wachtürme können besichtigt werden – mit 360-Grad-View und als AR-Modell. Die Angebote zu den einzelnen POIs kann der User entweder vorab downloaden oder vor Ort visualisieren, indem er den QR-Code von Schautafeln einliest. Über die App kann man aber auch die (ansonsten unsichtbare) Limeslinie in der Landschaft nachvollziehen. „LIMES mobil macht das Welterbe dort sichtbar, wo man den Limes buchstäblich vor lauter Bäumen nicht mehr sehen kann“, so Veronika Fischer, Koordinatorin für das archäologische Welterbe beim Landesamt für Denkmalpflege. „Die App hilft, das Denkmal selbstständig zu erkunden, sich auf vielfältige Weise damit auseinanderzusetzen und Identifikation mit dem Welterbe zu schaffen und zu stärken.“
Mit dem „Histopad“ gehen im französischen Loireschloss Chambord Besucher und Besucherinnen auf Tour – und reisen damit schnurstracks zurück in die Renaissance. Über AR und 360-Grad-Rekonstruktionen zeigt das Tablet das Treiben in den Sälen, das Lodern des Kaminfeuers im königlichen Schlafgemach, den gedeckten Tisch in der Gesindeküche und vieles mehr. Auch die von der Stiftung Berliner Mauer angebotene App Cold War Berlin spielt gekonnt mit der Vergangenheit. Die App holt die sogenannte „Panzerkonfrontation“ aus dem Jahr 1961, als sich am Berliner Checkpoint Charlie auf einmal sowjetische und amerikanische Panzer bedrohlich gegenüberstanden, praktisch live aufs Smartphone-Display: Als stünde man persönlich am Straßenrand, kann man das Anrollen der Panzer und die weitere Entwicklung beobachten. Und das vor historischer Kulisse.
Dass AR so häufig zum Einsatz kommt, ist kein Zufall, sondern liegt in der Natur der Dinge: Künstliche Realität lässt uns Zugang zu Welten finden, die uns sonst versperrt bleiben, wie der Mond, die Vergangenheit – oder auch die Tiefen des Pazifiks gleich vor der kanadischen Küste, wo die letzten verbliebenen Southern Resident Orcas leben. „Critical Distance“ heißt die AR-Experience des Smithsonian National Museum Of Natural History in Washington, bei dem Besucher*innen, ausgestattet mit Mixed-Reality-Headsets, durch ein holographisches Killerwal-Becken „schwimmen“ und selbst erleben, wie schwer die Futtersuche für Wale in einer Welt voller Schiffsverkehr und störender Geräusche ist. Ziel des Museums: die Beziehungen zwischen den Menschen, den Orkas und dem Meer deutlich zu machen und für den Schutz der Meere zu werben. Mithilfe von künstlichen Realitäten, die Info und Wissen gekonnt „erlebnisieren“ und damit eindrucksvoller und nachhaltiger wirken als die ausführlichste Info-Tafel.
Wie kam es zur Idee eines virtuellen Orka-Pools im Smithsonian Museum?
Erfahren Sie in einem Video des Museums mehr über das spannende Projekt.
© Andrew Harrington; Korea Tourism Organization; Joachim Negwer, Diavolezza Lagalb AG, Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege