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{{postCount}} Besucherlenkung durch künstliche Intelligenz – kann das funktionieren?
Wir haben zwei Wissenschaftler zum Forschungsprojekt AIR befragt, in dem entsprechende Verfahren entwickelt, implementiert und evaluiert werden.

Besucherlenkung durch künstliche Intelligenz – kann das funktionieren?

Wir haben zwei Wissenschaftler zum Forschungsprojekt AIR befragt, in dem entsprechende Verfahren entwickelt, implementiert und evaluiert werden. Das Forschungsprojekt AIR steht für „AI-basierter Recommender für nachhaltigen Tourismus“ und ist ein Verbundprojekt zur Entwicklung eines digitalen Besuchermanagements in deutschen Tourismusdestinationen. Das Projekt AIR untersucht die Kernelemente eines Besuchermanagementsystems in sechs deutschen Use Cases zwischen Nordsee und Alpen. Zwei davon befinden sich im Allgäu in der Region Füssen

Interview mit Prof. Dirk Schmücker

Prof. Schmücker, im Januar 2022 ist unter Ihrer Federführung das Forschungsprojekt AIR gestartet. Können Sie das Projekt kurz vorstellen?

Es gibt immer wieder Zeiten und Orte, wo im Sinne eines nachhaltigen Tourismus die Gästeströme entzerrt werden sollten. Früher hat man die Menschen mithilfe von Schildern oder Zeitungsanzeigen zu lenken versucht. Heute gibt es dafür die Möglichkeit des digitalen Besuchermanagements. Wir wissen, aus welchen Elementen ein solches digitales Besuchermanagement besteht. Aber wir wissen nicht, wie diese optimal zusammenspielen. Das wollen wir mit dem Projekt AIR erforschen. Und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch im Rahmen von sechs verschiedenen Use Cases zwischen Nordsee und Allgäu, die eine möglichst große Breite von Anwendungsfällen abdecken sollen – von Outdoor und Strand über Parken bis hin zu Stadterlebnis.

Was sind die Bausteine des digitalen Besuchermanagements?

Es geht los mit Frequenzmessung. Das digitale Besuchermanagement muss ja wissen, was wann wo los ist. Diese Daten müssen bereitgestellt, also in einen Data Hub gezogen werden. Dann ist der Recommender an der Reihe, also die Generierung von Alternativen und Prognosemodellen. Dann kommt das Touchpoint-Management, also die Frage, wie diese Informationen an die digitalen Touchpoints ausgespielt werden, die von den Kunden benutzt werden. Am Schluss stellt sich die Frage, wie man andere digitale Prozesse aus smarten Destinationen integrieren kann. Und dann wird evaluiert.

Wie wichtig ist dabei der Einsatz von KI, also von künstlicher Intelligenz?

Statt künstlicher Intelligenz sollten wir lieber von „maschinellem Lernen“ sprechen. Dieses maschinelle Lernen steht im Zentrum des Projekts, weil die generierten Frequenzdaten – wie voll ist es am Punkt x? – und die Informationen, die an die Kunden ausgespielt werden, so verarbeitet werden müssen, dass daraus Prognosen geschneidert und Alternativen generiert werden können. Das ist der sogenannte Recommender, also die Empfehlungsmaschine. Und die benutzt Algorithmen des maschinellen Lernens. Es geht darum, aus großen Datenmengen Muster zu erkennen und diese Muster zu nutzen. Mehr nicht. Künstliche Intelligenz ist auch überhaupt nicht intelligent. Sie verarbeitet einfach nur wahnsinnig schnell gewaltige Datenmengen.

Prof. Dirk Schmücker

Künstliche Intelligenz ist auch überhaupt nicht intelligent

Prof. Dirk Schmücker, Leiter des Instituts für Tourismus und Bäderforschung (NIT) in Kiel, koordiniert und leitet das Forschungs­projekt AIR

Gab es bislang schon ähnliche Projekte?

Es gibt den Ausflugsticker in Bayern, den Strandticker an der Lübecker Bucht und andere ähnlich gelagerte Projekte. Im Bereich der Messungen funktionieren die auch schon ganz gut. Nur bei der Skalierung hapert es. Wenn ein Ausflügler zum Punkt x will, dann hilft es ihm nichts, wenn er auf eine spezielle Website gehen muss, weil er nur dort gesagt bekommt, wie voll es am Punkt x gerade ist. Es hilft ihm auch nichts, wenn er losfährt und bei seiner Ankunft mitgeteilt bekommt, dass es da jetzt voll ist. Er muss das vorher erfahren, und zwar in ganz vielen verschiedenen Kanälen. Dieser Weg vom punktuellen Messen und Ausspielen an jeweils nur einer Stelle hin zum Messen und Ausspielen an ganz vielen Stellen, das ist die Skalierung. Und da gibt es große Defizite.

Ahnen Sie denn schon, was gut funktionieren könnte und was nicht?

Wir glauben, dass das Ganze umso besser funktioniert, je mehr Ausspielkanäle wir bedienen. Wir wissen nur noch nicht, welche Kanäle das genau sind und wie die Prioritäten aussehen, denn das hängt auch davon ab, welche Zielgruppen welche Informationen benötigen. Die offene Datenhaltung ist hier enorm wichtig, denn wenn wir Informationen an möglichst viele Menschen ausspielen wollen, müssen die auch einen möglichst einfachen Zugang dazu haben. Und das geht am besten, wenn diese Daten in einem möglichst vereinheitlichten Format vorliegen. Ein Besuchermanagementsystem ist auf eine Open-Data-Infrastruktur angewiesen, die nicht nur weiß, ob da irgendwo eine grüne Ruhebank steht oder ein Marterl, sondern auch, welche Wege daran vorbeiführen und wie diese Wege besucht sind.

Was sind die größten Her­ausforderungen des Projekts AIR?

Es dürften drei sein. Das eine ist die Implementierung der maschinellen Lernkomponenten. Denn es ist eben etwas anderes, ob Sie mit Algorithmen ein Bild erkennen oder ein Auto steuern oder ob Sie damit Besucherströme beeinflussen wollen. Die zweite Herausforderung ist organisatorischer Natur. Wie lassen wir diese Daten und Empfehlungen möglichst reibungsfrei zwischen verschiedenen Ebenen hin und her fließen? In Bayern wäre etwa die BayernCloud das natürliche Habitat für solche Daten. Aber die Daten müssen da irgendwie hingelangen. So etwas läuft über eine API, eine Programmierschnittstelle.

Wenn da aber 20 oder 30 Leute miteinander kommunizieren, muss man sich auf eine gemeinsame Sprache einigen, und das wird organisatorisch kompliziert. Doch am größten ist vermutlich die dritte Herausforderung: Wir wissen noch zu wenig darüber, wie wir diese Daten aufbereiten und ausspielen müssen, damit sie beim Konsumenten eine Verhaltensänderung auslösen. Wie können diese Daten dazu beitragen, dass sie am Wochenende nicht an den völlig überfüllten Tegernsee fahren, sondern etwas anderes machen? Das fällt in den Bereich der Konsumentenforschung.

Haben Sie eine Vermutung, was gut funktionieren könnte?

Ich glaube, dass man mit integrierter Kommunikation relativ weit kommt. Die Infos sollten in ein passendes Umfeld integriert werden. Es gilt herauszufinden, wo sich Menschen informieren, wenn sie eine Radtour planen. Und genau an dieser Stelle dann die Information anzubieten. Zu den Verbundpartnern des AIR-Projekts gehört ja auch Outdooractive mit seiner Tourenplanungsplattform. Es wäre doch cool, wenn dort diese Info bereits aufscheinen würde, wenn der User seine Radtour plant und die App ihn fragt: Wann willst du dort hin? Besser nicht nächstes Wochenende, denn da wird die Hölle los sein. Wie man diese Infos konkret implementiert, muss man sehen. Aber wenn ich auf einer Plattform eine Hütte oder einen Radweg suche, müsste mir wenigstens der Hinweis gegeben werden, dass ich dazu auch Auslastungsinformatio­nen bekommen kann. Wie voll es da wird. Oder wie voll es im letzten Jahr bei ähnlichen Wetterbedingungen war.

Auf welches Ergebnis von AIR hoffen Sie?

Idealerweise sollte ein effektives Besuchermanagementsystem herauskommen. Also Mechanismen, wie wir effektiv Entscheidungen beeinflussen können. Außerdem erhoffe ich mir eine Art Ökosystem für dynamische Daten. Wir haben in den letzten Jahren viel Grips in den Aufbau eines Öko­systems für statische Daten gesteckt – Daten, Plattformen, Open Data, Lizenzen für Bilder und alles Mögliche. Dieses System jetzt für dynamische Daten zu öffnen, sodass diese Daten zwischen verschiedenen Ebenen und Data Hubs reibungslos fließen können, das wäre meine Hoffnung. Da kann man vielleicht auf dem aufsetzen, was im Bereich Smart City diskutiert wird. Da gibt es schon so ein paar solcher Standards, aber das noch ein bisschen größer zu ziehen, das fände ich gut.

Danke, Prof. Schmücker!


Interview mit Prof. Guido Sommer

Prof. Sommer, was ist das WTZ?

Das Wissenstransferzentrum Innovative und Nachhaltige Tourismusentwicklung gibt es seit eineinhalb Jahren. Wir setzen hier, sichtbar für die Branche, mit Partnern aus der Praxis Dinge um, die nicht nur auf einer theoretischen, akademischen Ebene bleiben. AIR ist eines dieser Projekte, die in Richtung Besucherlenkung und damit eines besseren Besuchermanagements gehen.

Warum sind Use Cases von AIR im Allgäu angesiedelt?

Weil wir zu den gefragtesten Urlaubsregionen in Deutschland gehören, und weil es bei uns punktuell Hot-spot-Entwicklungen gibt, die sich heutzutage mittels digitaler Technologien wahrscheinlich deutlich besser managen lassen sollten. Es geht darum, die Besucherströme zu entzerren, um die Erlebnisqualität für die Gäste zu bewahren und gleichzeitig die negativen Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung zu minimieren. Die meisten Einheimischen wissen genau, was sie dem Tourismus verdanken – Infra­struktur, Wohlstand etc. – und auch für Leistungsträger und Stakeholder ist „degrowth“ als Lösung kaum akzeptabel. Wir sagen deshalb: Lasst uns doch erst mal versuchen, das, was wir haben, besser zu managen und Besucher und Besucherinnen besser in der Fläche zu verteilen. Bei uns gibt’s ja nicht nur Hotspots, sondern auch Cold Spots. Orte, die noch mehr Auslastung vertragen könnten und ebenfalls attraktiv sind.

Prof. Guido Sommer

Wir müssen die Leute besser verteilen.

Prof. Guido Sommer, Leiter des WTZ „Innovation und Nachhaltigkeit im Tourismus“ an der Hochschule Kempten, arbeitet an den beiden Use Cases von AIR im Allgäu

Was genau wollen Sie herausfinden?

Das Ganze ist ein Forschungsvorhaben, ein Pilotprojekt, wo wir in der Praxis Daten modellieren, um daraus Prognosen hinsichtlich des zu­künftigen Besucheraufkommens an ausgewählten Orten abzuleiten. Auf dieser Basis sollen dann Empfehlungen ausgespielt werden. Mit dem AIR-Projekt wollen wir lernen, wir wollen zeigen, dass es funktionieren kann, um anschließend skalieren zu können. Wir möchten keine zu großen Erwartungen wecken, denn wir haben nur begrenzte Mittel für die Sensorik zur Verfügung, können also nicht gleich großflächig Sensoren anbringen und eine große Menge Messdaten nutzen. Aber wir können anhand von verschiedenen Use Cases die Funktionsweise einer KI testen. Schauen, ob das so funktionieren kann. Welche Daten relevant sind und wie diese zusammenlaufen. Wichtig ist ebenfalls, wie Informationen in den relevanten Kanälen ausgespielt werden und wie viele Leute das dann sehen können. Nur damit werden wir tatsächlich Lenkungseffekte erzielen können. Am Ende des Tages ist der Nachweis zu führen, welche Veränderungen wir tatsächlich bewirken können.

Wie ist der Status quo?

Wir definieren gerade die relevanten Use Cases im urbanen und im ländlichen Füssen. Letzteres könnte etwa die Uferstraße am Hopfensee sein, wo sich oft der Parksuchverkehr staut, was die Aufenthaltsqualität mindert. Dann die enge, kleine Füssener Innenstadt, wo es an schönen Wochenenden ebenfalls sehr voll werden kann. Da hätten wir zwei ganz unterschiedliche Szenarien. Anschließend wird überlegt, welche Sensoren in welchen Fällen sinnvoll sind: WLAN-Zähler, die über das Einloggen von Handys den Füllgrad eines Raums feststellen, was datenschutzrechtlich okay ist, da keine personenbezogenen Daten übermittelt und gespeichert werden. Bodensensorik bei Parkplätzen, Kameras, die mit Schwarz-Weiß-Abgleich arbeiten, oder Laserscanner, die sogar zwischen Fahrradfahrern und Fußgängerinnen unterscheiden können. Es gibt da mittlerweile viele Möglichkeiten.

Die größte Herausforderung?

Technisch lässt sich das wohl lösen. Klar, die KI wird am Anfang nicht gleich super funktionieren, denn die ist ein lernendes System, das erst durch Erfahrungen und historische Daten richtig schlau wird. Vielmehr stellt sich die Frage nach der Akzeptanz durch den Menschen: Wenn mir prognostiziert wird, ein gewisser Parkplatz ist um eine bestimmte Uhrzeit voll, und dann ist er das gar nicht, dann kann dies dazu führen, dass solche Hinweise beim nächsten Mal nicht mehr ernst genommen werden. Da müssen wir aufpassen, dass wir die Glaubwürdigkeit des Systems nicht verspielen. Aber wirklich kniffelig ist die Frage, wie wir mit dem Recommender eine echte Lenkungswirkung erzeugen können. Es müssen attraktive, passende Alternativen angeboten werden. Zudem müssen wir viele Leute erreichen. Und die erreichen wir nur, indem wir unsere Daten offen zur Verfügung stellen, damit sie möglichst in all den Kanälen ausgespielt werden, in denen sich Menschen, die einen Ausflug planen, informieren. Das reicht von Tourenplanungsplattformen wie unserem Partner Outdooractive über Destinationswebseiten bis hin zu Alpenverein, Camping-Portalen, ADAC usw.

Auch der Ausflugsticker Bayern ist ein sehr passender Kanal, und auch Google darf auf die Daten zugreifen und sie nutzen. Damit wir in diesen Kanälen landen, brauchen wir wertvolle und verständliche Daten, die sich, zum Beispiel in Form von Widgets, einfach einbinden lassen. Die BayernCloud als Open Data Hub hat hier eine Schlüsselrolle.

Wollen sich Besucher*innen denn überhaupt lenken lassen?

Das ist ein spannendes Forschungsfeld: Inwiefern lassen sich Menschen lenken? Wie transparent muss sein, dass hier eine Lenkung stattfindet? Wann verschweigt man’s besser, beziehungsweise wann ist das kein Problem? Es soll ja nicht der Anschein einer öffentlich gesteuerten Manipulation erweckt werden. Wir wollen vielmehr Akzeptanz erzeugen. Da sind die Menschen aber ganz unterschiedlich empfindlich. Der Recommender kommt dem entgegen, weil er ja möglichst keine Verbote ausspricht, sondern mehrere Empfehlungen zur Wahl stellt. Der User kann selbst entscheiden. Aber durch viele Infos und schlau ausgespielte Daten versuchen wir trotzdem, eine Lenkung zu erzielen.

Zum Projekt gehört auch „Experimentelle Interventionen zur Cold-Spot-Aktivierung“

Wir reden im Tourismus schon länger von der „carrying capacity“, der Aufnahmefähigkeit eines Raums: Hotspots liegen darüber, Cold Spots darunter. Wir versuchen, Besucher auch in solche Cold Spots zu lenken, das heißt, abseits der Hotspots Angebote machen zu können, die ebenfalls attraktiv sind. Im Austausch mit dem Team des Naturparks Nagelfluhkette zum Beispiel ist über solche Cold Spots gesprochen worden, weil dort die großen Wanderparkplätze fehlen. Hier könnte etwa ein E-Bus super funktionieren, der die Leute am Ort x absetzt und am Ort y wieder abholt. So können Gebiete erschlossen werden, zu denen man eben nicht so problemlos kommt. Man muss aber auch bedenken, dass es in bestimmten Urlaubsgebieten kaum attraktive Cold Spots mehr gibt.

Welches Ergebnis erhoffen Sie sich bei AIR?

Dass es funktioniert und alle Seiten profitieren – Gästeerlebnis und lokale Bevölkerung gleichermaßen.

Das Projekt ist im Januar 2022 gestartet und auf drei Jahre angelegt. Wie geht es danach weiter?

Wenn wir erklären können, wie der Recommender gut funktionieren kann, wenn also der Pilot steht, dann kann er in die Praxis ausgerollt werden. Dazu braucht es dann die nötigen Mittel und Strukturen.

Herzlichen Dank für das Interview, Prof. Sommer!

© FH Westküste, Romina Angeli