Bad Hindelang
Die neue Tourismusstrategie des Allgäuer Kneipp-Heilbads basiert auf den Bedürfnissen und Wertvorstellungen der Einheimischen. Die kommen an erster Stelle.
Schmal kurvt das Sträßchen von Bad Hindelang ins Retterschwanger Tal hinauf. Links und rechts Buckelwiesen, in denen leuchtend pink das Knabenkraut steht. Im Süden bauen sich die Gipfel der Allgäuer Hochalpen auf. Vor der Sennalpe Mitterhaus auf 1.084 Meter Höhe herrscht entspannte Behaglichkeit. An den Holztischen in der Wiese sitzen verschwitzte Mountainbiker, die Allgäuerisch schwätzen, neben Wandernden mit Berliner Schnauze. Kuhglocken bimmeln. Lena Behrendes serviert cremige, dicke Buttermilch und kräftige Brotzeiten. Ihr Mann Bene, 36, trägt Stallhose und bereitet sich auf seine Führung vor. Jeden Freitag zeigt der junge Landwirt einer Gruppe Hindelanger TouristInnen die Bio-Sennalpe, auf der er seit zehn Jahren die Sommer verbringt. Zusammen mit Lena, den zwei Kids, 18 Milchkühen, 50 Stück Jungvieh, dazu Schweinen, Pferden und Hühnern.
Mit den Gästen geht es erst in den Stall, dann in die Sennerei, wo Bene vom Alltag erzählt, vom Käsemachen, vom Leben in den Bergen. Danach richtet er auf kleinen Holzbrettchen die Verkostung an: Alpspeck, Rinderschinken, Bergkäse, alles natürlich aus eigener Bio-Produktion. Die Gäste stellen Fragen. Bene erklärt. „Und die Leute wollen wirklich viel wissen, und das gefällt mir. Ich erzähl ihnen dann, was wir hier machen dass Bio sehr viel Arbeit bedeutet. Wir haben hier ja auch keinen Strom und machen sogar das Feuerholz fürs Käsen selbst. Ich möchte, dass unsere Arbeit die richtige Wertschätzung erfährt, und das funktioniert durch diese Führungen. Denn die Leute freuen sich, wenn sie erfahren, wie es bei uns auf der Alpe zugeht. Die bedanken sich sogar! Da entstehen ein Kontakt und eine Nähe, die kannst du nicht herstellen, wenn du den Gästen nur ihre Brotzeit servierst.“
Nicht florierender Tourismus um jeden Preis ist das Ziel, sondern die richtige Balance.
Bene, Lena und die Sennalpe Mitterhaus sind ein gelungenes Beispiel für den nachhaltigen, ausgewogenen Tourismus, für den sich Bad Hindelang entschieden hat. Das Allgäuer Kneipp-Heilbad, das auch heilklimatischer Kurort ist und rund 80 % seiner Wertschöpfung direkt und indirekt dem Tourismus verdankt, hat 2019 ein innovatives Konzept vorgelegt. Es heißt „Unser Bad Hindelang 2030 – Lebensraumkonzept mit integrierter Tourismusstrategie“. Der Titel verrät schon, dass hier nicht florierender Tourismus um jeden Preis oberstes Ziel ist. Vielmehr geht es darum, die richtige Balance zwischen den Bedürfnissen der Einheimischen und denen der Gäste zu finden.
Denn auch im beschaulichen Bad Hindelang hatten sich bereits vor Corona punktuell immer wieder klassische Overtourism-Probleme ergeben: entnervender Parkplatzksuchverkehr durch TagesausflüglerInnen, Überfüllung und Besucherstaus an bestimmten landschaftlichen Highlights, , Zelten und Lagerfeuer mitten im Naturschutzgebiet. „Es war sehr belastend, ein Riesenproblem, und das wollten wir nicht mehr“, erinnert sich Tourismusdirektor Max Hillmeier. So entstand die Idee mit dem „Lebensraumkonzept“, für das erst einmal ausführlich die Bevölkerung befragt wurde. „Wir wollten wissen, wie sie Bad Hindelang sehen, wie sie sich ihr Dorf in Zukunft wünschten, welchen Tourismus sie wollen.“ Erst auf dieser Basis habe man dann die touristische Strategie entwickelt. „Eigentlich logisch, oder?“, sagt Hillmeier. „Umgekehrt macht es wirklich keinen Sinn.“
Die Bevölkerungsbefragung ergab, dass die HindelangerInnen an ihrer Heimat die enge Dorfgemeinschaft und intakte Natur schätzen, die Beschaulichkeit und Ursprünglichkeit. „Seelenruhig“ wurde daraus als Markenkern abgeleitet. Und man legte ein paar Entwicklungsgrundsätze fest: Nachhaltigkeit, starke Gemeinschaft, Identität, Qualität vor Quantität und Gewinnmaximierung sowie Innovation.
„Konkret wollen wir die Lebensqualität von Touristen und Einheimischen verbessern“, führt Hillmeier aus. Die touristischen Maßnahmen drehen sich denn auch hauptsächlich um zwei große Themen: um die Lösung der Verkehrs- und Parkplatzproblematik zum Beispiel durch die Einrichtung eines Rufbus-Systems samt App, eine Interreg-Busverbindung zum österreichischen Tannheimer Tal und eine Parkraumlösung. Und um den Ausbau der touristischen Erlebnisangebote, wie es sie seit einem Jahr bereits als Bestandteil der Servicegästekarte „Bad Hindelang PLUS“ gibt, und die gut ins neue Konzept passen. Der Alp-Besuch bei Bene Beßler zum Beispiel. Aber auch Aktionen wie Baumpflanzen, Sonnenaufgangswanderungen aufs Wertacher Hörnle, eine Yoga-Bergwanderung, gemeinsames Kässpätzle-Kochen gehören dazu.
Auch Gäste empfinden dann Verantwortung gegenüber ihrem Urlaubsort.
„Damit wollen wir die Gäste zu Einheimischen auf Zeit machen, die hinter die Kulissen gucken können. Sie lernen dabei das echte Leben kennen, verstehen, was die Menschen hier tun, was sie umtreibt.“ Und noch eines ist Hillmeier wichtig: „Wer unser Bad Hindelang auf solche Weise erfährt, der entwickelt auch eine ganz andere Einstellung zu seinem Urlaubsort. Er empfindet dann eine gewisse Verantwortung gegenüber der Kultur- und Naturlandschaft.“
Auf die Urlaubenden überträgt sich dann hoffentlich der Spirit, der im „Ökomodell Hindelang“ schon seit über drei Jahrzehnten angelegt ist: der Schutz und die nachhaltige Nutzung der Hindelanger Berglandschaft. Bislang sind hier vor allem die Bergbauern und Bergbäuerinnen aktiv, die ihre Buckelwiesen traditionell und besonders naturnah bewirtschaften, keine Intensivbeweidung betreiben und ihre Produkte vor Ort verarbeiten.
Und apropos heimische Produkte: Auch hier soll das Angebot „noch viel besser aufbereitet“ werden, verspricht Hillmeier. Kulinarisch zum Beispiel: würziger Bergkäse, Rindersalami, getrocknetes Rindfleisch, Honig, alles vom Feinsten. „Wir arbeiten an einem eigenen Label für Hinderlanger Produkte und wollen Gastbetriebe motivieren, diese in ihr kulinarisches Angebot aufzunehmen, auch wenn’s etwas mehr kostet“, kündigt der Tourismusdirektor an. „Aber das ist es, was die Gäste doch suchen!“
Wertschöpfung für die Einheimischen ist wichtig.
Last but not least soll auch das Hindelanger Handwerk stärker in den Fokus rücken. Alles, was hier traditionell aus Holz hergestellt wird – Schindeln, aber auch ganze Holzhäuser. Hillmeier erzählt von Christoph Finkel, einem Künstler von Weltruf, der aus altem Bergwaldholz einmalige Schalen und Objekte drechselt und dessen KundInnen aus aller Welt nach Bad Hindelang gereist kämen. Und vom Schmied Konrad Neßler, der unten an der rauschenden Ostrach in einer uralten Hammerschmiede am Amboss sitzt.
Die Schmiede von Neßler sieht tatsächlich genauso aus, wie man sich eine Schmiede vor 500 Jahren vorstellen würde, als die Fugger in Hindelang Eisen abbauten und das Dorf eine berühmte Waffenschmiede war: uraltes Holz, schwarzes Eisen, eine gewaltige, rußige Esse, kaum Licht. Nur Neßlers Ohrenschützer scheinen neueren Datums zu sein. Mit denen sitzt der 59-Jährige am Amboss und lässt den Hammer auf ein rundes Eisenblech niedersausen. Am Ende wird eine Kässpätzle-Pfanne dabei herauskommen, Neßlers Spezialität. Er verkauft sie an Gäste und Einheimische; man darf ihn jederzeit in der Schmiede besuchen. Die Pfannen halten ewig, auch das ist ein Aspekt der Nachhaltigkeit. Genauso wie der direkte Kontakt zu den TouristInnen, das authentische Erlebnis, das diese in der Schmiede haben, und der Erhalt einer alten Handwerkstradition. Oder auch die „Wertschöpfung für die Einheimischen“, wie es Hillmeier formuliert hat. Denn auch die … gehört zur Lebensqualität.
Spessart-Mainland
An der Entwicklung der „Europäischen Kulturwege“ im Spessart war vor allem die Bevölkerung beteiligt. Die ihre Heimat dabei ganz neu kennenlernte.
Wenn man mit den durchschnittlichen deutschen BürgerInnen einen Assoziationstest macht und ihnen den Begriff „Spessart“ vorlegt, was ist die Antwort? „Wald“, ist Michael Seiterle, Geschäftsführer des Tourismusverbands Spessart-Mainland e. V. überzeugt. „Aber auch Wirtshaus und der Themenkreis Räuber, Film und Wilhelm Hauff.“ Zwar schrieb Hauff, ein schwäbischer Erzähler, seinen Märchenalmanach „Das Wirtshaus im Spessart“ vor fast 200 Jahren, doch er beherrscht damit immer noch die kollektive Vorstellung von diesem Mittelgebirge im nordwestlichen Bayern.
Wald und Wandern sind die großen Themen im Spessart
„Der Spessart ist der größte zusammenhängende Mischwald Deutschlands und beherbergt eine der vier deutschen Qualitätsregionen ‚Wanderbares Deutschland‘“, beschreibt Seiterle seine Region. „Dazu kommt noch das Mainland mit seinen Flusslandschaften und Weinbergen. Doch Wald und Wandern sind bei uns seit jeher die ganz großen Themen.“ Drei Millionen Übernachtungen im Jahr verzeichnet die Region in „normalen“ Jahren, dazu über 20 Millionen Tagesbesuche, was einer Wertschöpfung von 850 Millionen Euro entspricht. Der Anteil des Tourismus an der Gesamtwirtschaft beträgt knapp drei Prozent; damit ist Spessart-Mainland keine ausdrückliche Tourismusregion. Und doch: Die Nachfrage ist in den letzten 10 bis 15 Jahren kräftig gestiegen; die Zahl der Übernachtungsgäste um fast 40 % gewachsen. „Weil wir gezielte Reiseanlässe geschaffen haben. Neue Projekte gestartet. Und das alles gut vermarktet haben.“
Seiterle und sein Team vom Tourismusverband vermarkten und entwickeln unter anderem zwei erfolgreiche Initiativen, die – wie Seiterle zugibt – gar nicht vom Verband selbst ausgingen, sondern, wie im Fall des Projekts „Wald erFahren“, von den Kommunen: Im ganzen Spessart wurde ein flächendeckendes Netz aus 98 Ladestationen für E-Bikes eingerichtet, an denen die Fahrräder in kurzer Zeit mit frischer Energie versorgt werden. „Wir haben Standorte mit Erlebnisqualität wie Museen oder Biergärten ausgesucht; die Stationen sind witterungsunabhängig und kostenlos.
Dahinter steckt die Idee, dass wir den Menschen den Umstieg vom Auto aufs Fahrrad erleichtern wollen. Das betrifft natürlich stark die Einheimischen. Dazu haben wir aber auch ein touristisches Angebot entwickelt, nämlich Tourenvorschläge. Und das richtet sich an die Gäste. So haben beide etwas davon.
Die Einheimischen gestalten spannende Kultur-Touren.
Außerdem eröffnen wir den weniger trainierten Gästen und Einheimischen durch die E-Bike-Infrastruktur die Möglichkeit zur Erfahrung der Berge des Spessarts, die ihnen bisher verwehrt blieben. Wir erweitern also auch ein Stück weit die Teilhabemöglichkeit an der Heimat.“ Diese Verknüpfung aus kommunaler Initiative, Nachhaltigkeit und touristischem Konzept überzeugte den ADAC so sehr, dass er „Wald erFahren“ im Jahr 2019 mit dem ersten Preis beim „ADAC Tourismuspreis Bayern“ auszeichnete.
Das zweite erfolgreiche Projekt heißt „Europäische Kulturwege“, wurde vom gemeinnützigen Verein Archäologisches Spessartprojekt (ASP) entwickelt und bündelt über 100 „Kulturwege“ im ganzen Spessartraum. Das Ziel: Die vielfältige Kultur des Spessarts beim Wandern erfahrbar zu machen. Themen sind zum Beispiel die „Spessart Polka“ von Bessenbach oder „Marmor, Stein und Spessartit“ im Aschaffenburger Stadtteil Gailbach mit seinen Steinbrüchen. Einmalig an diesem Projekt: Alle Touren wurden von den Einheimischen entwickelt. Die sich erst mal zusammensetzten und sich fragten: Was gibt es überhaupt bei uns? Was ist besonders? „Bei den Einheimischen entsteht dadurch ein ganz neues Bewusstsein für die heimische Kultur. Sie wandern nämlich selbst los“, begeistert sich Seiterle. „Und erkunden mit größter Neugier auch die Nachbardörfer.“ Der Tourismusverband Spessart-Mainland hat die „Kulturwege“ mit Ausschilderungen, GPS-Daten und einer eigenen Broschüre touristisch aufgewertet und freut sich jetzt über die große Nachfrage. „Die Broschüre wird uns aus der Hand gerissen. Ganz besonders von den Einheimischen.“
Auch barrierefreie Angebote kommen allen zugute
Die Folgen des Projekts findet Seiterle rundum positiv. „Von den Wirtshäusern wissen wir, dass jetzt mehr Gäste kommen“, erzählt er. „Und bei den Einheimischen steigt die Wertschätzung für die eigene Kultur. Das ist wichtig, denn nur, was man kennt, weiß man zu schätzen und will man auch bewahren. Erst recht, wenn die Leute wissen, dass andere Bürger diese Wege mit erarbeitet haben und keine Tourismusprofis.“ Auch die nächsten größeren Projekte in Spessart-Mainland richten sich an Einheimische und TouristInnen zugleich. Ein Schwerpunkt ist die Ausweitung der Barrierefreiheit zum Beispiel bei Erlebniswegen, Spielplätzen, Kneippanlagen. „Gebaut wurden und werden diese für die touristischen Zielgruppen, aber sie nutzen allen“, sagt Seiterle. Und erzählt zum Abschluss von den Hörstationen an den Wanderwegen, die sich auch an Sehbehinderte richten. „Da lassen wir zum Beispiel Schneewittchen von seiner Stiefmutter erzählen, ein Ritter führt durch unsere Ruinen, oder alte Fuhrmänner nehmen die Hörer mit auf eine Fahrt über den Spessart“. Das sei was Besonderes, und das Feedback sei enorm. Besonders begeistert? Die Einheimischen.
Fotos: Michael Seiterle; Spessart-Mainland – Holger Leue