Auf Berliner Wochenmärkten taucht in den Sommermonaten regelmäßig ein Lastenfahrrad mit einer integrierten Holzkiste auf. Die Holzkiste wird aufgeklappt; ein Schalter und ein kleiner Tisch entfalten sich, bunte Hocker drumherum. Es gibt bunte Stifte, kleine Holzstempel, Post-its. Ein bisschen so, als sollte Kinderpost gespielt werden. Doch das Anliegen dahinter ist ernst: visitBerlin sucht den Dialog mit den Berliner*innen. Die Berliner Tourismus und Kongress GmbH will im direkten Kontakt und unter dem Motto „Sag uns deine Meinung!“ von den Bewohner*innen erfahren, wie sie den Tourismus in ihrer Stadt finden. Was sie mögen, was sie stört. Was sie anders machen würden.
Es wird geredet, diskutiert, gelacht. „Wir sind immer wieder erfreut, wie viel positives Feedback wir auf unser Thema bekommen. Viele sehen die Wichtigkeit des Tourismus für die wirtschaftliche Entwicklung Berlins“, berichtet Sabine Wendt, Leiterin des Bereichs Destinationsmanagement & Unternehmensentwicklung bei visitBerlin, wo das „HIER-Mobil“ erfunden wurde. Die Kiez-Touren mit dem „HIER-Mobil“ sind Teil des „Stadtverträglichen und nachhaltigen Tourismuskonzepts 2018+“ des Landes Berlin. Sie dienen der Akzeptanzerhaltung in der Hauptstadt. Dass auf diesem Feld etwas getan werden musste, hatte man in der Hauptstadt schon 2011 begriffen. Immer lauter waren in den stark von Tourist*innen frequentierten Bezirken die Stimmen der AnliegerInnen geworden, die gegen die Auswüchse protestierten: gegen Lärm, Rummel und Gestank, gegen Gastro-Overkill und den Rückgang von bezahlbarem Wohnraum. „Touristen raus!“ und „No more Rollkoffer“ stand auf Hauswänden in Kreuzberg, Neukölln und Friedrichshain, den Hotspots des internationalen Feier-Tourismus.
Der wachsende Unmut der eigenen Bürger*innen führte zu einem Umdenken im Senat. Er beschloss: visitBerlin sollte sich künftig nicht mehr nur um klassisches Marketing kümmern, sondern auch um die Bürger*innenpartizipation. Sollte die Einheimischen mit ins Boot holen. 2014 entstand das Projekt „Hier in Berlin“, in dem sich alles darum dreht, mit den Bürger*innen zum Thema Tourismus ins Gespräch zu kommen. „Wir machen das im Rahmen unserer Kiez-Tour, aber auch digital über unsere Website du-hier-in-berlin. Wir sammeln Meinungen, Ideen, Anmerkungen und werten sie aus“, berichtet Wendt weiter. „Einige Ideen nehmen wir selbst auf, andere geben wir an die Bezirke weiter.“ Ergänzt wird das Bürger*innen-Feedback durch die Ergebnisse einer jährlichen Bevölkerungsumfrage zum Thema Tourismus, die ein Stimmungsbild zeichnen soll. „Wir fragen die Berliner zum Beispiel, ob sie stolz sind, in Berlin zu leben. Ob sie gerne Gastgeber sind. Und ob sie sich durch Touristen gestört fühlen“, führt Wendt aus. „In den letzten Jahren waren die Zustimmungswerte stabil. Nur bei der Frage, ob der Tourismus für die Berliner Wirtschaft wichtig ist, hat die Zustimmung leicht abgenommen. Im letzten Jahr ist durch Corona andererseits aber sicherlich die wirtschaftliche Bedeutung des Tourismus für Berlin deutlicher geworden.“
Die Bürgerpartizipation in Berlin reicht jedoch weit über Gespräche und Meinungsäußerungen hinaus. So entwickelte visitBerlin auch die „Going Local App“ für das Smartphone – mit Tipps für Besuche in weniger frequentierten Kiezen. Diese App wirkt in mehrere Richtungen: Zum einen inspiriert sie Tourist*innen dazu, neue Kieze und Attraktionen zu entdecken. „Das entspricht dem Bedürfnis nach individuellen Berlin-Erlebnissen abseits der Touristenströme“, weiß Wendt. Zweitens sind Berliner*innen aufgefordert, die App mit eigenen Geheimtipps anzureichern – schließlich kennen sie ihren Kiez am besten. Drittens motiviert die App auch die Einheimischen, in ihrer Heimatstadt neue Ecken zu entdecken und sich mal einen Tapetenwechsel zu gönnen. In anderen Bezirken.
Nicht alle zwölf Berliner Bezirke sind touristische Hot-spots, im Gegenteil. Der größte Betrieb, wenn man die Zahl der gewerblichen Übernachtungen pro Einwohner als Grundlage nimmt, herrscht in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf, also im Zentrum. In dezentraleren Vierteln wie Spandau oder Pankow hingegen herrscht touristisch fast so etwas wie dörflicher Frieden. Das Ungleichgewicht ist groß. Hier soll die zweite Aktionssäule im Destinationsmarketing und -management Abhilfe schaffen: die Bezirksarbeit. Es geht darum, die Potenziale aller Bezirke optimal zu nutzen. Die Attraktionen der weniger bekannten Bezirke zu promoten und die Gästeströme somit insgesamt zu entzerren. Wendt führt aus: „Seit 2018 kümmert sich ein Team intensiv um die Bezirke, vernetzt sie und arbeitet mit ihnen an der Tourismusentwicklung. Es geht um touristische Produkte wie zum Beispiel Themen-Radwege. Aber auch um Partizipation und Akzeptanz. Letztere sind vor allem in stark besuchten Bezirken wie Friedrichshain-Kreuzberg oder Neukölln Thema.“
Auch die Bezirksarbeit ist Teil des neuen Tourismuskonzepts 2018+. Doch welche Maßnahme wirkt am besten? „Ihre maximale Wirkung erzielen die Maßnahmen im Zusammenspiel“, hat Wendt beobachtet. „Durch die Befragungen erhalten wir ein objektives Bild. Das ergänzen wir durch subjektive Erfahrungen von den Kiez-Touren. In der Bezirksarbeit setzen wir dann konkrete Maßnahmen um. Die Erkenntnisse daraus fließen in operative Projekte ein. Und auf die stimmen wir unsere Kommunikation ab.“
Alles also rund und perfekt? Wendt schüttelt den Kopf. Noch fehle ein Modul, das der Bevölkerung konkretes Mitspracherecht bei touristischen Entscheidungen gewährt. „Wir hatten schon einen Bürger*innenbeirat geplant, konnten ihn aber wegen Corona noch nicht umsetzen. Aber jetzt stehen wir in den Startlöchern!“