{{postCount}} Wo sind nur die Zielgruppen geblieben?

Wo sind nur die Zielgruppen geblieben?

Und werden sie für modernes Marketing überhaupt noch gebraucht? Unser Autor hat sich zwischen Sinus-Milieus, Generationen, Tribes und Audiences umgesehen

Text: Peter Meroth

Wussten Sie, dass Superman-Fans jetzt eine wichtige Zielgruppe darstellen? Ist wirklich so: Die Hamburger Werbeagentur Jung von Matt mit ihren mehr als 20 Tochtergesellschaften hat sich um das Spin-off JvM NERD erweitert. Und das ist spezialisiert auf ein Publikum, das die Ikonen der Comic-, Fantasy- und Gaming-Szene liebt. Von Avengers über Super-, Spider- und Batman bis hin zu Thor und Black Widow. Deren Fans gelten als schrullige Computerfreaks. Doch JvM NERD analysiert cool die Wünsche der angeblichen Outsider, die sich prompt als riesige Schar mit großem Potenzial entpuppen.

Mit Blick auf die Mehrheitsgesellschaft

Das ist neu. Jahrzehntelang hatten Verbraucherforschende Zielgruppen aus demografischen Grunddaten wie Alter, Geschlecht, Wohnort und Einkommen hergeleitet. Wissenschaftlich fundiert, aber auf die Mehrheitsgesellschaft fixiert. Solche Zielgruppen zählten zu den wichtigsten Faktoren jeder Marketingstrategie, die festlegt, wer mit welchen Maßnahmen überhaupt angesprochen werden soll. „Die präzise Bestimmung der Zielgruppe ist das entscheidende Fundament jeder erfolgreichen Marketingstrategie“, lautete ein eherner Lehrsatz der Branche. Fachleute scherzten gern über die Unschärfen der Methode, nach welcher der englische König Charles und Black-Sabbath-Sänger Ozzy Osbourne – beide Engländer, Jahrgang 1948, zum zweiten Mal verheiratet und reich – eine einheitliche Zielgruppe darstellen. Mit den Sinus-Milieus, die das gleichnamige Sozial- und Marktforschungsinstitut mit Sitz in Berlin und Heidelberg entwickelte, wurde der Ansatz verfeinert. Verbraucher und Verbraucherinnen werden dort nach Schichtzugehörigkeit und Grundorientierungen differenziert. Über zusätzliche Kriterien und Milieu-Varianten führt die Sinus-Methode zu hochentwickelten Zielgruppenmodellen, wie sie auch im Tourismusmarketing Einsatz finden. Die Soziologie forschte trotzdem weiter. Um die sich immer schneller wandelnden Bedürfnisse, Begehrlichkeiten, Moden und Marotten gesellschaftlicher Gruppen zu erfassen, propagierten Trendforschende Anfang der 1990er-Jahre die Generationenmodelle, welche, den prägenden Jugendjahren der Menschen folgend, zunächst zwischen Babyboomern (ca. 1955–1964) und der Generation X (1965–1979) unterschieden. Später kamen die bis zum Jahr 2000 geborenen Millennials dazu. Heute dreht sich viel um die Generation Z der heute 15- bis 25-Jährigen. Und die Generation A steht bereits in den Startlöchern. Auch diese Segmentierun­gen hätten Unzulänglichkeiten, warnt Andreas Wiehrdt. Gestützt auf seine Erfahrung bei Ogilvy, Young & Rubicam sowie an der Spitze der McCann-Agentur FutureBrand, betreibt der Marketingspezialist heute den Blog „Brand Doctor“. Millennials würden einerseits als narziss­tisch und antriebslos beschrie­ben, schreibt Wiehrdt, aber auch als „gemeinschaftsorien­tierte Workaholics, die unsere Welt retten wollen.“

Der übersehene Wert der Subkulturen

Widersprüche seien unvermeidlich, wenn man eine riesige, vielfältige demografische Gruppe über einen Kamm scheren wolle. Wie bekommen Marketer heute also ihre Zielgruppe zu fassen? Gar nicht so einfach. Der gesellschaftliche Wandel beschleunigt sich durch zunehmende Zersplitterung, Fragmentierung, Individualisierung. Die Menschen stellen Normen infrage, wenden sich von etablierten Institutionen ab und suchen nach neuen Werten. Sie organisieren sich über Einstellungen, Interessen und digitale Netzwerke. Diese dynamischen Segmentierungen, sagen Fachleute, seien durch soziodemografische Merkmale allein kaum noch zu erfassen.

Aber vielleicht durch Interessen. Die können dann auch in Nischen führen und zu spezieller Kundschaft. Dort sei es sehr wichtig, den Leuten auf Augenhöhe zu begegnen, ihre Ästhetik, ihre Sprache und Codes zu verstehen, sagt Toan Nguyen, Gründer und Chef der JvM-Tochter über „seine“ Nerds. Die Subkultur sei „größer als das, was sonst im Mainstream passiert“, ist er überzeugt. „Der Fußball-Markt ist etwa 55 Milliarden Euro wert. Aber der Markt für all die verschiedenen Nerd-Themen ist zusammen 250 Milliarden Dollar wert.“ Bei seiner Arbeit für Jung von Matt hat Nguyen den Begriff Zielgruppe durch Stilgruppe ersetzt. Ob das schon einer der „Stämme“ ist, von denen BrandDoctor Wiehrdt spricht, wenn er verkündet: „Tribes sind der neue heiße Scheiß!“? In der Jugendsprache tauchen sie auch mal als Clans, Gangs, Posses oder Familys auf. Es geht vor allem darum, sich durch Outfit, Musikgeschmack, Sprache und Ritu­ale von anderen zu unterscheiden, sich mit einer Gruppe zu identifizieren und sich ein Zugehörigkeitsgefühl zu verschaffen.

Neue Ansätze basieren auf Verhaltensdaten

Der Lebensmittelkonzern Danone arbeitete mit diesem Zielgruppen-Begriff, als er für eine Mineralwasser-Kampagne in England anhand von Google-, Facebook- und anderen Daten 16 verschiedene Tribes identifizierte. Diese wurden mit exakt auf sie gemünzten, maßgeschneiderten Videos angesprochen. Apropos maßgeschneidert: Auch das Instrumentarium der Marktanalysen wandelt sich in atemberaubendem Tempo, durch immer raffiniertere Erfassungs- und Verar­beitungstools und immer größere Datenmengen. So basieren Marketingstrategien heute immer öfter auf der Auswertung von Verhaltensmustern und situativen Faktoren. Die Customer Journey verfolgt minutiös die „Reise“ der Kunden und Kundinnen: wie sie auf ein Produkt aufmerksam werden, Angebote vergleichen, sich durch Webseiten klicken, den Warenkorb füllen, wieder abbrechen und dann vielleicht doch kaufen. Anhand von Mobilitätsdaten ermittelt sogenannte Geo-Intelligenz den geeigneten Ort und Zeitpunkt, Verbrauchende anzusprechen und gegebenen­falls zusätzlich zu stimulieren. Sentimentanalysen können auf­zeichnen, welche Botschaften am besten funktionieren. Der Streaming-Anbieter Netflix, der auf Daten seiner über 300 Millionen Abonnements zurückgreifen kann, soll 2.000 „taste communities“ ermittelt haben.

Audiences: dynamisch und datengetrieben

Als Todd Yellin, Vizepräsident für Pro­duktstrategie bei dem Abo-Kanal, die Entdeckung dieser „communities“ verkündete, stichelte er mit gespieltem Mitleid gegen jene Kolleginnen und Kollegen, die strikt auf demografische Daten setzten: „Das muss ein Schock für Sie sein, aber es gibt tatsächlich 19-jährige Männer, die sich Dance Moms ansehen. Und 73-jährige Frauen, die Breaking Bad oder Avengers gucken.“ Diese „Geschmacks-Gemeinschaften“, sind den Tribes durchaus verwandt. Doch wenn die Branche das „Community-based Marketing“ gerade als „das nächste große Ding“ ausruft (siehe dazu auch das Interview mit Philipp Westermeyer auf S. 16), hat sie damit nicht einfach Gruppen mit gleichen Vorlie­ben oder Interessen im Visier. Gemeint ist der mehr oder weniger aktive Zusammenschluss von Menschen, die sich regelmäßig digital oder offline treffen. Marketer kennen ihr Produkt und ihre Kundschaft meist sehr genau und können mit dem Wissen Social-Media-Seiten nach Gruppen durchstöbern, die für sie Anknüpfungspunkte bieten (siehe dazu den Kasten unten). Immer häufiger geht es in der aktuellen Zielgruppendiskussion auch um Audiences. Das sind die Groß-, Klein- und Kleinstgruppen oder gar Individuen, die mit Personali­sierungs- oder Hyperpersonalisierungsmethoden erreicht werden. Während die klassi­sche Zielgruppeneinteilung, wie sie in Destinationen durchaus noch weitverbreitet ist, statisch und segmentbasiert funktioniert, ist personalisiertes Marketing dynamisch und datengetrieben. Laut einer aktuellen Studie des deutschen Digitalverbands Bitkom e. V. haben 54 Prozent der Deutschen mindestens ein­mal ein Produkt online gekauft, nachdem sie persona­lisierte Werbung dazu gesehen oder gehört haben.

Hyperpersonalisierung bringt Kundenbindung

„Personalisierte Werbung ist für die Kundinnen und Kunden oft interessanter und für die Unternehmen effektiver als herkömmliche, nicht personalisierte Werbung“, sagt Dr. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Bitkom. Beim hyperpersonalisierten Marketing kommen außerdem Echtzeit und KI dazu. Wozu das führt, kennt der Mensch von Amazon, Airbnb, Netflix oder Spotify, wo er Angebote erhält, die auf der Basis der Analyse von Kaufhistorie, Suchanfragen, Wunschlisten etc. erstellt wurden. Die dazu nötigen Daten hat er durch seine Aktivitäten im Netz massenhaft selbst generiert. Wer, wann, wo, wie, was geklickt, geliked, geteilt, gekauft oder fast gekauft hat, wird registriert. Längst gibt es Software-Tools, um diese Datenmengen zu durchforsten. Unternehmen sind so in der Lage, mit hyperpersonalisierten Inhalten oder Angeboten zu locken. Auch für touristische Destinationen ergibt das als ergänzende Maßnahme Sinn, etwa um in der Recherche- oder Inspirationsphase potenzielle Kunden gezielt anzusprechen. „Zu den Vorteilen von Hyperpersonalisierung gehört die stärkere und emotionalere Kundenbindung und eine höhere Konversionsrate“, schreibt Sergej Plovs, Experte in Customer-Relation­ship-Management, im Online-Branchenmagazin OMR-Hub. „In einer Zeit, in der der Konsument von einer Flut an Informationen überrollt wird, ist es genau diese gezielte Ansprache, die Marken aus der Masse hervorhebt und nachhaltig in Erinnerung bleiben lässt.“

Mit gezielter Ansprache zu emotionaler Kundenbindung

Communitys – das neue zuhause
Warum wird Community-based Marketing wichtig? Die Berliner Werbeagentur Pro & Me GmbH nennt vier Gründe: die Vereinsamung des Individuums, bedingt durch immer mehr junge Leute, die viel Zeit vor Bildschirmen verbringen und wenig in Gesellschaft anderer Menschen. Dann das Bedürfnis nach Unverbindlichkeit. Man möchte keine Vereinsmitgliedschaft mit Verpflichtungen eingehen, sondern sich nach Lust und Laune einbringen. Dritter Grund ist die Leichtigkeit, mit der sich Menschen heute mit Gleichgesinnten verbinden können. Stichwort Content Graph statt Social Graph: Soziale Bindungen sind nicht mehr nötig, um sich zu vernetzen – es genügt, die gleichen Dinge im Netz zu verfolgen. Der Content Graph ermittelt, was User gucken und schlägt entsprechend weitere Inhalte, Spiele oder Videos vor. Diese „TikTokisierung der Social-Media-Plattformen ist der entscheidende Schritt, warum aktuell Communitys aus dem Boden schießen“, meldet Pro & Me. Last, but not least: Laut der Berliner Agentur ist eine gewisse „Influencer Saturation“ eingetreten. Auch deshalb investierten Brands nun immer mehr in Community-Marketing.

So funktioniert es
Bei Community-based Marketing sollen Menschen über gemeinsame Interessen oder Werte zu einer aktiven Gemeinschaft rund um eine Marke geformt werden. Im Fokus steht also nicht aktive Produktvermarktung, sondern die Schaffung echter Verbundenheit der Community-Mitglieder untereinander und zur Marke. Ein „Beziehungsmarketing“ unter der Prämisse, dass sich Menschen enger an eine Marke gebunden fühlen, wenn sie sich als Teil einer Gemeinschaft empfinden. Unternehmen können selbst Communitys aufbauen – durch die Einrichtung von Gruppen auf Social Media oder auf der eigenen Website (Foren, Mitgliederbereiche). Sie können aber auch bestehende Strukturen für ihre Zwecke nutzen, etwa durch Sponsoring. Die Sportartikel-Marken Hoka und Foot Locker kooperieren mit der Bewegung „City Girls Who Walk“. Deren Teilnehmende schätzen gemeinsame Spaziergänge und Treffen, bei denen sie auch Kontakte knüpfen und sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen können. Mit den German Roamers, einem Zusammenschluss von deutschen Outdoor-Fotografen, die auf Instagram mit 400.000 Followern eine sehr aktive Gemeinschaft haben, kooperierte die Fahrradmarke Brompton: Die „Roamers“ unternahmen Radtouren, die fotografisch dokumentiert wurden. Es muss auch nicht immer Instagram sein: Apps wie CoApp, Thinkific oder Skool bieten Plattformen zum Austausch. Skool zum Beispiel hostet die Gruppe „Sylt – Gemeinsam Meer erleben“. Hier berichten Insel-Fans von ihren Erlebnissen, tauschen Insider-Tipps aus, weisen auf Events hin.

Weitere Infos zum Thema gibt es auch im Zielgruppen-Artikel des Zukunftsinstituts.

Illustrationen: stock-adobe.com